Der Leichtathletik-Trainer Gjert Ingebrigtsen soll seinen Sohn, den zweifachen Olympiasieger Jakob Ingebrigtsen, und dessen Schwester jahrelang missbraucht haben.
Liefert Tone Ingebrigtsen ihren Ehemann ans Messer? Verteidigt sie ihn? Oder schweigt sie? Das sind die Fragen, die die norwegische Öffentlichkeit in den vergangenen Wochen umgetrieben hat.
Ingebrigtsens Auftritt am Montagmorgen vor Gericht beginnt mit einem Knall. Sie nennt dem Richter ihre Personalien, Tone Eva Ingebrigtsen, 55 Jahre alt, wohnhaft in Sandnes, Norwegen. Dann stellt sie ein Bedingung. Sie sagt: «Ich möchte nur hinter verschlossenen Türen aussagen.»
In diesem Prozess befinde sie sich «inmitten jener Menschen, die ich liebe». Und: Die Medien hätten diesen Gerichtsfall genügend ausgewalzt, hätten sich auf Kosten ihrer Familie gierig auf jedes Detail gestürzt. Sie bitte um Verständnis, dass ihr die Aussage schwerfalle: «Meine Familie hat in den letzten drei Jahren zu viel negative Aufmerksamkeit in den Medien erhalten.»
Gjert Ingebrigtsen drohen bis zu sechs Jahre Haft
Der Angeklagte im Prozess vor dem Bezirksgericht in Sandnes ist Tone Ingebrigtsens Ehemann Gjert, 57 Jahre alt. Das Paar hat sieben Kinder; der Sohn Jakob gewann in Tokio über 1500 Meter und in Paris über 5000 Meter zweimal Olympia-Gold. Die Brüder Henrik und Filip sind ehemalige Spitzenleichtathleten, wurden unter anderem Europameister über 1500 Meter.
Der Vater hat das Trio seit der Kindheit gefördert, brachte sich die Aufgaben als Trainer selbst bei. Sportlich hatte das Projekt Erfolg, die Ingebrigtsens waren eine Ausnahmeerscheinung im Weltsport, galten in Norwegen als Vorzeigefamilie. Bis die Brüder 2022 mit Gjert als Vater und Trainer brachen und ihm im darauffolgenden Jahr in einem offenen Brief jahrelangen psychischen und physischen Missbrauch vorwarfen.
Weil die Anschuldigungen im offenen Brief so detailliert und aus Sicht der Behörden glaubhaft waren, nahm die Staatsanwaltschaft Ermittlungen wegen häuslicher Gewalt auf und brachte Gjert Ingebrigtsen vor Gericht. Bei einer Verurteilung drohen ihm bis zu sechs Jahre Haft.
Liefert die Mutter die entscheidende Aussage?
Im Prozess geht es um Misshandlungen gegen den heute 24-jährigen Jakob und die 19-jährige Schwester, eine ehemalige Leichtathletin. Die Vorwürfe der Brüder Henrik und Filip sind entweder verjährt oder es fehlen die Beweise. Die Geschwister zeichneten während ihrer Aussagen das Bild einer von Gewalt und Misshandlung geprägten Kindheit; Gjert Ingebrigtsen wies diese Vorwürfe zurück und warf den Kindern «krankhaften Ehrgeiz» vor.
Es steht Aussage gegen Aussage. Die Anklage dürfte sich also schwertun, den ultimativen Beweis zu liefern – in diesem Punkt kommt die Mutter Tone ins Spiel. Von ihr erhofft sich das Gericht eine entscheidende Aussage; selbst angeklagt ist sie nicht. In den norwegischen Medien wird sie als stille Beobachterin des Familienlebens dargestellt.
Tone Ingebrigtsen hat in den Einvernahmen durch die Polizei geschwiegen. Das Gericht lud sie als Zeugin vor, dort erschien sie am Montag in Begleitung des Ehemanns und Angeklagten. Die 55-Jährige ist vor Gericht lediglich dazu verpflichtet, ihre Personalien zu nennen. Wegen der Ehe mit dem Angeklagten, könnte sie gemäss norwegischem Recht alle weiteren Aussagen verweigern. Auf dieses Recht hat Tone Ingebrigtsen verzichtet. Doch was sie sagt, bleibt vorerst im Dunkeln.
Der Richter spricht von einer «Zwangslage»
Nach einigem Hin und Her gibt der Richter am Montag Tone Ingebrigtsens Antrag auf Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Nur die direkt Beteiligten, der Angeklagte, Jakob und seine Schwester, Staatsanwaltschaft und Verteidigung, dürfen im Gerichtssaal bleiben. Jakob Ingebrigtsen hat ein Trainingslager in Spanien eigens dafür unterbrochen, um bei der Aussage der Mutter dabei zu sein.
Der Richter sagt zwar, er schätze es nicht, in eine Zwangslage gebracht zu werden. Er gewichte aber die Wichtigkeit von Tone Ingebrigtsens Aussage höher als das Interesse der Öffentlichkeit am Fall. Das Vorgehen ist ungewöhnlich, normalerweise dürfen in Norwegen Pressevertreter bei Aussagen ohne Publikum in Saal bleiben, allerdings weder Protokoll führen noch über die Vorgänge berichten.
Dass das Gericht Tone Ingebrigtsens Antrag folgt, sorgt in Norwegen deshalb für Wirbel. Der norwegische Presseverband teilt gegenüber der Zeitung «Aftenposten» mit: «Wir bedauern, dass nun ein Informationsvakuum entsteht. Finden so wichtige Aussagen hinter verschlossenen Türen statt, ist das Urteil eines Prozesses für die Öffentlichkeit schwierig nachzuvollziehen.» Ausserdem hätte vor dem Prozess geklärt werden müssen, welche Teile hinter verschlossenen Türen stattfinden würden.
Jakob Ingebrigtsen äussert Vorwürfe gegen die Mutter
Kritik für das Vorgehen äussert auch Jakob Ingebrigtsens Anwältin. Sie räumt gegenüber norwegischen Medien zwar ein, dass dies «der schwerste Tag in Tone Ingebrigtsens Leben» sei, sagt aber: «Sie hat während 20 Jahren die Öffentlichkeit gesucht. Ich kann den heutigen Entscheid deshalb nicht nachvollziehen.»
Das Protokoll von Tone Ingebrigtsens Aussage wird geheim bleiben, der Richter wird die Aussage allerdings in seine Urteilsbegründung einfliessen lassen. Wie detailliert er das machen wird, bleibt ihm überlassen. Das Urteil soll Mitte Mai eröffnet werden.
Der Öffentlichkeit bleiben bis dann nur die Aussagen über die Rolle der Mutter, welche ihre Kinder und der Angeklagte gemacht haben. Jakob Ingebrigtsen sagte früher im Prozess, die Mutter sei Zeugin mehrerer Misshandlungen gewesen. «Es war normal, dass ihr das egal war», sagte er.
Gjert Ingebrigtsen hingegen verteidigte seine Frau vor Gericht. Er stellte sie als «wundervolle und fürsorgliche Mutter» seiner sieben Kinder dar. Auch hier gilt: Es steht Aussage gegen Aussage.