Die Latinos sind in den USA zu einer entscheidenden Kraft geworden: Vor vier Jahren verhalfen sie Biden in Arizona zum Sieg. Doch 2024 kann Trump vor allem hispanische Männer begeistern.
Seit Kamala Harris ins Rennen um die Präsidentschaft gestiegen ist, keimt die Hoffnung auf unter den demokratischen Latinas in Phoenix. An ihrem Treffen im Zentrum für Latino-Kunst und -Kultur in der aufstrebenden Hauptstadt von Arizona geht es fröhlich zu und her: Eine weibliche Mariachi-Band mit Trompeten, Geigen und Gitarren sorgt für schwungvolle Musik, am Buffet gibt es Tacos zu essen, und an den Wänden hängen Harris-Poster im Design einer übergrossen mexikanischen Bingo-Karte. Darauf steht «La Presidenta» geschrieben und die Nummer 47. Gewinnt Harris, wäre sie das 47. Staatsoberhaupt der USA.
Aber noch hat sie nicht gewonnen. Sie und Trump liegen in den Umfragen auf gleicher Höhe. Vor allem die Unterstützung durch die Latinos schwächelt. Umso angriffiger gibt sich Raquel Teran, die ehemalige Parteichefin der Demokraten in Arizona. Vor ihrer flammenden Rede hat sie sich im Shop des Kulturzentrums noch einen Haarreif mit weissen und roten Kunstrosen gekauft: «Ich wollte etwas Farbiges, das für unsere Gemeinschaft steht.» Dann wird Teran ernst. Sie hätten das Präsidentschaftsrennen vor vier Jahren in Arizona nur mit einem Vorsprung von 10 000 Stimmen gewonnen.
Auch dieses Jahr werde es eng. «Jede Stimme zählt.» Und deshalb müssten alle vollen Einsatz zeigen, an Türen klopfen, Freunde und Bekannte anrufen: «Es geht um Leben und Tod. In Arizona entscheidet sich das Schicksal der amerikanischen Demokratie, die Präsidentschaft, die Macht im Repräsentantenhaus und im Senat.»
Der «sleeping giant» erwacht
Lange galten die Hispanics in den USA als «schlafender Riese». Noch immer werde sie von Journalisten gefragt, warum die Wahlbeteiligung der Latinos so tief sei, erklärte Teran. Aber das habe sich geändert: «Sprecht doch mit den Frauen, den ‹mujeres›.» Sie seien die mobilisierende Kraft: «Wir haben Arizona zu einem Swing State gemacht.» In einem kurzen Interview danach fügte Teran hinzu: «Wir sind ein Riese. Und die Frauen haben ihn aufgeweckt.»
Der erwachte Riese hat Arizona verändert: Joe Biden war der erste demokratische Präsidentschaftskandidat, der den südwestlichen Gliedstaat an der Grenze zu Mexiko nach Bill Clinton 1996 gewinnen konnte – und erst der zweite seit Harry Truman 1948. In den vergangenen Jahren verloren die Republikaner zudem auch ihre beiden Senatssitze und das Gouverneursamt in Arizona. Ein wichtiger Grund dafür sind die schnell wachsende Latino-Bevölkerung und ihre zunehmende Wahlbeteiligung: Die Zahl der wahlberechtigten Latinos hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren mehr als verdoppelt und die Zahl der registrierten Wähler mehr als verdreifacht. Fast jeder vierte Wähler in Arizona ist heute ein Hispanic – 53 Prozent von ihnen sind Frauen, 47 Prozent sind Männer.
Vor vier Jahren erhielt Biden in Arizona 63 Prozent der Latino-Stimmen, Trump lediglich 33 Prozent. Der klare Vorsprung von 30 Prozentpunkten sicherte Biden den Sieg. Denn die weissen Wähler stimmten mehrheitlich für Trump. Will Harris in Arizona gewinnen, muss sie Bidens Vorteil bei den Latino-Wählern halten können. Doch jüngste Umfragen lassen Zweifel daran aufkommen. Gemäss einer kürzlich durchgeführten Erhebung der Suffolk University liegt Harris bei Latino-Wählern in Arizona gegenüber Trump mit 57 zu 38 Prozent in Führung. Besonders bei hispanischen Männern kommt die Demokratin nicht gut an. Bei dieser Wählergruppe liegt sie gleichauf mit Trump, während sie unter Latinas einen Vorsprung von 40 Prozentpunkten aufweist.
Das sind historisch tiefe Werte. Seit Jahrzehnten gewinnen demokratische Präsidentschaftskandidaten die Stimmen der Latinos mindestens in einem Verhältnis von 2 zu 1. Generell sind die Einkommen der Hispanics tiefer als jene der weissen Bevölkerung, viele sind in Handwerksberufen tätig. Die Linke setzte sich stets für ihre Rechte als Einwanderer und Arbeiter sowie gegen ihre Diskriminierung ein. Warum muss Harris – selbst ein Kind von Einwanderern – nun um ihre Unterstützung bangen?
Wunsch nach schärferer Einwanderungspolitik
Ein Besuch in einem Vorort westlich des Stadtzentrums liefert Antworten: Maryvale entstand in den fünfziger Jahren als erschwinglicher American Dream für weisse Veteranen des Zweiten Weltkriegs. Die kleinen, ebenerdigen Einfamilienhäuser prägen das Suburb heute noch. Doch in ihnen leben nun überwiegend Latinos. Im Mercado de los Cielos – einem Kaufhaus – herrscht ein Hauch von Mexiko. Die kleinen Schmuckläden heissen hier «joyerías», die Mobilfunkgeschäfte bieten «reparaciónes» an, auch kitschige Jesusfiguren gibt es zu kaufen, und die ausgestellten Hochzeits- und Kinderkleider sind so üppig, bunt und glitzerig, wie man sich Latino-Mode eben vorstellt.
Maryvale ist eigentlich eine Hochburg der Demokraten. Doch in dem Mercado finden sich Trump-Anhänger unter den Kunden ganz leicht. Der 59-jährige Landschaftsgärtner Martín Rentería zum Beispiel sagt: «Ich, meine Frau, meine beiden Söhne und viele Freunde stimmen für Trump.» Der entscheidende Grund ist für ihn die lockere Einwanderungspolitik unter Biden: «Die Grenze steht offen, und viele schlechte Leute kommen ins Land.»
In den vergangenen vier Jahren hat die Zahl der Migranten, die illegal über die Südgrenze zu Mexiko in die USA gelangten, um Asyl zu beantragen, neue Rekordwerte erreicht. Im Dezember waren es 250 000 Personen. Weil Biden schärfere Verordnungen erliess und Mexiko härter gegen durchreisende Migranten vorgeht, sank diese Zahl im August bis auf knapp 60 000.
Für Rentería kommen aber immer noch zu viele. Er stört sich zudem an den legalen Wegen, die Biden für Migranten geschaffen hat. Der Präsident gewährte Einwanderern aus bestimmten Ländern – wie etwa Venezuela, Haiti oder Kuba – einen temporären Aufenthaltsstatus mit Arbeitserlaubnis. «Biden hat vielen neuen Leuten Papiere gegeben. Es gibt Leute in diesem Land, die hier seit dreissig Jahren arbeiten und über keine Papiere verfügen. Das ist schlecht», klagt Rentería. Die Zahl der Sans-Papiers in den USA wird auf 11 Millionen geschätzt.
Wie 90 Prozent der Latinos in Arizona stammt auch Rentería aus Mexiko. Mit 20 Jahren wanderte er mit seinem Vater ein. Er ist stolz auf das, was er erreicht hat. Seine beiden Söhne sind bei der Armee: Der eine ist Flugzeugmechaniker bei der Navy, der andere ein angehender Kampfpilot. «Wenn die Eltern arbeiten, arbeiten auch die Söhne», sagt Rentería. Er habe in den USA nie um etwas gebeten. Aber die Demokraten gäben nun viel zu viel Geld für Soziales aus: «Nur Leute, die nicht gerne arbeiten, stimmen für Harris, weil sie ihnen Geld verspricht.»
Fürs Geschäft war Trump besser
Auch die 40-jährige Clara, die ihren Familiennamen lieber für sich behält, vertraut in Wirtschaftsfragen auf Trump. «Er ist ein Geschäftsmann und hat in seiner ersten Amtszeit gute Arbeit geleistet», sagt die Mutter zweier schulpflichtiger Kinder. Ihr grösstes Problem mit Biden und Harris ist die Teuerung: «Die Inflation ist verrückt.» Früher habe sie für ein Päckchen Hühnerfleisch noch 7 Dollar bezahlt, jetzt seien es 20 Dollar.
Im Mercado sucht Clara nach Cowboystiefeln für ihren Mann. Sie nennt es «Arbeitsstiefel». Früher habe sie für das gleiche Modell 70 Dollar ausgegeben, aber nun koste es 150 Dollar. Weil ihr momentan die Mittel fehlten, müsse sie die Stiefel mit der Kreditkarte erwerben. Darauf fallen in den USA hohe Zinsen an. «Am Ende bezahle ich für die Stiefel vermutlich 210 Dollar.»
In jüngster Zeit müsse sie immer öfter mit der Kreditkarte bezahlen, erzählt Clara. Dabei verdienen sie und ihr Mann nicht schlecht. Sie sei Büroangestellte und ihr Mann leitender Angestellter bei einer Installationsfirma für Klimaanlagen. Ihr gemeinsames Einkommen betrage über 100 000 Dollar. Aber das Geld reiche trotzdem nicht für die Hypothek, die Schule der Kinder, das Auto, die Krankenversicherung und so weiter. Das Leben sei zu teuer geworden. «Ich dachte, wir gehören zur Mittelklasse – aber jetzt nicht mehr.»
Auch Clara stört sich nicht daran, dass Trump die Migranten pauschal als «Mörder» oder «Vergewaltiger» verurteilt und eine «Massendeportation» verspricht. Der republikanische Präsidentschaftskandidat werde nicht alle ausschaffen. Trump gehe es um schwere Straftäter, und das sei gut so.
Ein bisschen weiter sitzt Alfredo Rey auf einer Bank vor dem Eingang einer Zahnarztpraxis. Der 22-Jährige ist derzeit arbeitslos, will aber wieder studieren und begleitet seine Mutter zu ihrem Arzttermin. Rey wird für Harris stimmen. «Sie hat einen Plan, Trump redet wie ein Kind und plappert viel.» Vor allem gefällt es Rey nicht, wie Trump über die Migranten spricht. Aber auch er will eine striktere Einwanderungspolitik. Vor allem dürften nicht zu viele Steuergelder für die Ankömmlinge ausgegeben werden. «Wir brauchen auch Hilfe, weil die Preise steigen und viele Familien es schwer haben, sich genügend Essen zu kaufen.»
Warum nicht eine Frau – wie in Mexiko?
Reys Mutter weiss noch nicht, wie sie wählen soll. «Sie ist mit beiden Parteien nicht einverstanden», erzählt ihr Sohn. Ihr Problem mit den Demokraten sei das Recht auf Abtreibung. «Sie ist dagegen.» Harris hofft jedoch, in Arizona ebenfalls mit diesem Thema zu punkten. Im November werden die Wähler auch über eine Volksinitiative abstimmen, die das Recht auf eine Abtreibung bis zur 24. Schwangerschaftswoche in die gliedstaatliche Verfassung schreiben will. Gemäss Umfragen ist eine Mehrheit der Latinos dafür. Aber vor allem die ältere, noch stark im katholischen Glauben verwurzelte Generation lehnt die Vorlage ab.
Nachdem der Supreme Court das Recht auf Abtreibung auf nationaler Ebene vor zwei Jahren gekippt hatte, half dies den Demokraten, um moderate Wähler und vor allem Wählerinnen zu mobilisieren. Aber die Linke könnte auch konservative Unterstützer verlieren, die bisher aus anderen Gründen für sie stimmten.
Ein Beispiel dafür ist die Rentnerin Cynthia Parra. Sie hilft ab und zu als Verkäuferin im Shop des Zentrums für Latino-Kunst aus. Dem Geschäft, in dem Raquel Teran ihren Haarreif kaufte. «Ich bin eine stolze Demokratin», erklärt Parra. Trump sei ein «Monster», und den Republikanern gehe es immer nur ums Geld. Trotzdem weiss sie nun nicht, ob sie für Harris stimmen kann: «Gott ist unser Schöpfer. Wenn eine Frau schwanger wird, ist das ein göttliches Geschenk.» Das dürfe man nicht zerstören.
Die jüngeren Latinas befürworten indes mit grosser Mehrheit ein Recht auf Abtreibung. Auch die 40-jährige Berta Hernández ist dieser Meinung. Wie viele Latinos ist aber auch sie noch unentschlossen, obwohl sie früher Trump gewählt hat. Beide Kandidaten seien gut, meint Hernández bei einem Quartierfest – einer «pachanga» – in einem Stadtpark. Trump bringe viel Erfahrung mit, die Wirtschaft sei gut gelaufen unter ihm, und es habe in der Welt keine Gewalteskalationen gegeben wie jetzt. «Biden schickte viel Geld ins Ausland, um Kriege zu unterstützen. Das hilft uns nicht», meint Hernández, die in der Cafeteria einer Schule arbeitet.
Trotzdem ist sich Hernández nicht sicher. «Trump hat viel gelogen und schlechte Sachen gemacht.» Der Sturm auf das Capitol am 6. Januar 2021 gefiel der Mutter einer kleinen Tochter gar nicht. Ihr Bauchgefühl spricht momentan für Harris. «Wir Frauen haben auch ein Anrecht auf die Macht.» Und dies sei nun eine Gelegenheit. «So wie in Mexiko, wo nun eine Präsidentin regiert.» Vielleicht sind es am Ende doch die Frauen, die «mujeres», die dem aufgeweckten Giganten den Weg weisen.