Der prominente Kritiker des Establishments in Singapur, Lee Hsien Yang, hat in England politisches Asyl erhalten. Der Fall zeigt: Die hocheffiziente Regierungsmaschine duldet keine Dissonanzen.
Der Haussegen in der Dynastie von Lee Kuan Yew hängt seit Jahren schief. Aber dass einer seiner Söhne nun im Ausland Asyl erhält, gibt dem familiären Hahnenkampf in der sonst politisch so stabilen Republik eine besondere Note. Ausgerechnet die frühere Kolonialmacht Grossbritannien, die das vielgelobte Rechtssystem Singapurs geprägt hat, gewährt Lee Hsien Yang, dem jüngeren Sohn des 2015 verstorbenen Landesvaters Lee Kuan Yew, Schutz vor der Verfolgung und der Justiz im eigenen Land.
Der Fall zeigt die Besonderheiten des politischen Systems in Singapur auf, das seit Jahrzehnten von einer Partei dominiert wird. Oppositionelle Kräfte haben einen sehr schweren Stand. Beim 67-jährigen Lee Hsien Yang handelt es sich pikanterweise um den jüngeren Bruder von Lee Hsien Loong, dem langjährigen Premierminister, der noch heute in der Regierung gewisse Fäden zieht. Demgegenüber blieb der vergleichsweise publikumsscheue Hsien Yang der Politik lange fern; er machte zunächst im Militär Karriere und bekleidete danach prestigeträchtige Führungsfunktionen in der Wirtschaft.
Semiautoritäres Singapur
Die schwelende Familienfehde geriet erstmals ausser Kontrolle, als der im ganzen Land hochverehrte Patriarch Lee Kuan Yew im Alter von 91 Jahren starb. An einer alten Villa aus dem Nachlass entzündete sich der Bruderzwist: Der eine will das Elternhaus getreu dem testamentarischen Willen von Lee Kuan Yew abreissen lassen, der andere dieses als politisch-historisches Symbol erhalten.
Zum ganz grossen Krach kam es 2020, als sich der sonst zurückhaltende Hsien Yang einer Oppositionspartei anschloss. Damit zog er in einer Art «mission impossible» gegen die allmächtige People’s Action Party (PAP) ins Feld, die Singapur seit der Unabhängigkeit von 1965 regiert. Seither fliegen die Fetzen, und dabei zeigt sich unmissverständlich, dass im semiautoritären Singapur auch Mitglieder der Lee-Familie nicht tun und lassen können, was sie wollen. Politische Aktivitäten und die freie Meinungsäusserung sind in Singapur stark beschränkt.
Lee Hsien Yang nahm immer seltener ein Blatt vor den Mund: Er prangerte autoritäre Tendenzen im Stadtstaat an, ortete «dunkle Seiten» im System, wie versteckte Korruption und Geldwäscherei, und stellte darüber hinaus die Unabhängigkeit der Gerichte infrage. Sein älterer Bruder Lee Hsien Loong, der im Mai 2024 nach zwanzig Jahren als Regierungschef zurücktrat, konterte solche Vorwürfe umgehend mit der juristischen Keule. Er verklagte den jüngeren Bruder, dessen Ehefrau und deren in den USA lebenden Sohn mehrfach.
Schweigen oder Exil
Politische Hochspannung gab es in Singapur eigentlich nie. Dafür hatte die Republik ihr Familiendrama, das zusehends in eine politische Hexenjagd mündete. Hsien Yang brachte sich kurzzeitig gar als Kandidat für Präsidentschaftswahlen ins Spiel – eine Volkswahl – und forderte damit das Establishment (und seinen Bruder) endgültig heraus.
Der jüngere Lee, wie sein Vater ein in Cambridge und Stanford ausgebildeter Jurist, wusste, worauf er sich da eingelassen hatte. Kritik wird in Singapur rasch als Verleumdung und Opposition als eine Art Landesverrat gesehen. Das einheimische Pflaster wurde ihm denn auch bald zu heiss, und im März 2023 setzte er sich nach London ab. Dabei liess er durchblicken, dass er wohl nie mehr in seine Heimat zurückkehren werde.
Die Nachricht, dass Grossbritannien ihm nun den Status eines politischen Flüchtlings gewährt, kommt dennoch überraschend. In einem exklusiven Interview in der britischen Zeitung «The Guardian» wirft Hsien Yang den Institutionen in seinem Heimatland vor, ihn seit seiner Allianz mit der Opposition politisch zu verfolgen. Seine Anschuldigungen wiegen schwer: Man müsse die Rolle von Singapur als Waffenhändler und Drehscheibe für schmutziges Geld und Kryptowährungen unter die Lupe nehmen.
Das ist natürlich dicke Post an die Adresse einer Regierung, die sich weltweit einen ausserordentlichen Ruf bezüglich Korruptionsbekämpfung erarbeitet hat und darüber hinaus wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Errungenschaften vorweisen kann. Interessanterweise berichten die staatlich beaufsichtigten Medien in Singapur recht offen über die harschen Vorwürfe aus London.
Die Transparenz und die mediale Eskalation zeugen davon, wie abgrundtief Hsien Yangs Entfremdung vom System geworden ist. Spätestens jetzt müsste der verlorene Sohn tatsächlich mit massiven Verleumdungsklagen, Schadenersatzforderungen und Strafen rechnen, die für das singapurische Rechtssystem seit Jahrzehnten so charakteristisch sind. Letztlich schüchtern sie ein und stellen Dissidenten vor die unbequeme Wahl: Schweigen oder Exil.