Es gibt ein Recht auf Begehren. Aber auch darauf, begehrt zu werden. Der Film «Babygirl» macht sich darüber Gedanken, genauso Miranda July und J. M. Coetzee.
Liebe sollte mehr sein als eine praktische Angelegenheit, aber was ist dieses «mehr»? Die italienische Schriftstellerin Natalia Ginzburg (1916–1991) fängt die Frage sehr schön ein in ihrer Sammlung «Die kleinen Tugenden».
Wir müssten uns bewusst sein, dass «das Problem unserer menschlichen Beziehungen im Mittelpunkt unseres Lebens» stehe, schreibt sie: «In welchem Haus in der Stadt, an welchem Ort der Erde lebt die Person, die für uns die richtige ist, uns in allem ähnlich, bereit, auf alle unsere Fragen zu antworten, bereit, uns endlos zuzuhören, ohne sich zu langweilen, über unsere Fehler zu lächeln, ein Leben lang mit unserem Gesicht zusammenzuwohnen?»
Für immer würden wir mit dieser Person zusammenleben wollen, allerdings nicht, weil wir sicher seien, dass es sich um die richtige Person handle, «im Gegenteil, davon sind wir überhaupt nicht überzeugt, und wir hegen immer noch den Verdacht, dass die Person, die wirklich die richtige für uns ist, sich weiss wo in der Stadt verbirgt». Wir würden gerne noch warten, bis wir uns sicher sind. Aber die Zeit drängt.
In Deutschland steht ein Buch der 81-jährigen Literaturkritikerin Elke Heidenreich seit 43 Wochen auf der «Spiegel»-Bestsellerliste, es trägt den Untertitel «Alle wollen alt werden, niemand will es sein. Ist das nicht absurd?». Das Buch bringt das Dilemma perfekt auf den Punkt. Alt werden? Ja. Alt sein? Nein, danke.
Liebe und Altern werden oft miteinander in Verbindung gebracht: Die richtige Person ist die, mit der man alt wird – das ist das Ideal. Doch mit dem Älterwerden kommt der körperliche und psychische Verfall, und je älter die Menschen werden – in den meisten Teilen der Welt ist die Lebenserwartung in relativ kurzer Zeit dramatisch gestiegen –, desto früher scheinen der Verfall und der Kampf dagegen zu beginnen. Was bedeutet das für die Liebe?
Porno statt Partner
Der vieldiskutierte Film «Babygirl» der niederländischen Filmemacherin Halina Reijn, 49-jährig, beginnt mit einer Sexszene zwischen einem Ehepaar, beide weit in den Fünfzigern. Nicole Kidman rennt nach einem vorgetäuschten Orgasmus zu ihrem Laptop, sieht sich einen Porno an und kommt dann tatsächlich zum Höhepunkt.
Interessant ist die Prämisse, die dieser Szene zugrunde liegt: Orgasmen sollten offensichtlich mit dem Partner stattfinden, nicht allein beim Pornoschauen.
Wer, wie ich, den Film zweimal gesehen hat, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass auch Kidmans Ehemann, verkörpert von Antonio Banderas, nur etwas vorspielt. Er täuscht Erregung vor, er täuscht Vergnügen vor. Die Ehe stellt sich dar als blutlose Liebesszene, einstudiert von einem Intimitätskoordinator mit etwas zu viel Enthusiasmus.
Worum es in «Babygirl» eigentlich geht, ist die Frage, wie man jung bleiben kann, ohne wirklich jung zu sein. Die Tochter der Protagonistin sagt zu ihrer Mutter: «Du siehst aus wie ein toter Fisch.» Wie wehrt man sich gegen einen solchen Satz – die Crux des Films –, ohne seine Würde zu verlieren? Das erweist sich als kompliziert. Der nur allzu verständliche Kampf gegen das Doppelkinn, die Falte, das schlaffe Fleisch hat seine Nebenwirkungen.
Und es hat zweifellos Vorteile, zu sterben, bevor man alt wird. Wäre Jesus als 80-jähriger Mann gekreuzigt worden, hätte das Christentum nie viel erreicht. Das Äussere ist wichtig, auch wenn man glaubt, dass es das Innere sein sollte, das wirklich zählt. Und obwohl sich das Christentum an das menschliche Leid geklammert hat, war es sich stets bewusst, dass selbst der leidende Mensch für Schönheit empfänglich bleibt. Auch wenn die Protestanten versucht haben, die Schönheit des Bildes durch die des Wortes zu ersetzen.
In diesem Sinne scheint mir die Eröffnungsszene von «Babygirl» protestantisch zu sein oder zumindest christlich. Allein einen Orgasmus haben, während man sich einen Porno ansieht? Erbärmlich. Die moderne Version von sündhaft.
Verliebt in die Pflegerin
J. M. Coetzee fragt sich in seinem 2005 erschienenen Roman «Slow Man» – er war zu diesem Zeitpunkt Anfang sechzig –, warum «die Liebe das Schauspiel der Schönheit braucht», um sie zum Leben zu erwecken. Was haben schöne Beine mit Liebe zu tun oder gar mit dem Begehren?
«Slow Man» ist eine Art Spiegelbild von «Babygirl»: Ein 60-jähriger Fotograf wird beim Radfahren von einem Auto angefahren, sein Bein muss amputiert werden, und er verliebt sich in seine Pflegerin. Ein toter Fisch, ein fehlendes Bein – der Verfall nimmt viele Formen an.
Kidman spielt Romy, CEO eines grossen Unternehmens, das überflüssige menschliche Arbeitskräfte durch immer fortschrittlichere Roboter ersetzen will. Sie fühlt sich zu einem jungen männlichen Praktikanten hingezogen, hervorragend gespielt von Harris Dickinson. Vielleicht verliebt sie sich sogar in ihn. Wenn man mit jemandem schläft, ist alles möglich. Im Laufe des Films wird er immer attraktiver – er ist sexy, er ist die Antwort auf Coetzees Frage, warum die Liebe Schönheit brauche, um lebendig zu werden: einfach, weil es so ist.
Er grinst mit der Zuversicht derer, die spät in der Nacht noch an ihre eigene Unbesiegbarkeit glauben. Und er geht so souverän mit seiner Schönheit um, wie Kidman souverän ihre Firma führt.
Coetzees Fotograf verliebt sich auf sogenannt unangebrachte Weise. Seine Betreuerin ist nicht nur viel jünger – was vielleicht noch verkraftbar ist –, sondern hat auch zwei Kinder und einen Ehemann. Sie ist vergeben, aber die Leidenschaft kümmert solche Details nicht.
Scheues Sexspiel
Über die Sadomaso-Spielchen zwischen Kidman und Dickinson ist schon viel geschrieben worden, aber die Spiele sind nur ein kurzer Ausflug – und nicht einmal ein besonders interessanter. Der faszinierendste Aspekt an ihnen ist das «safe word», mit dem das Spiel endet: «Jacob». Der Name von Kidmans Mann, von der Antonio-Banderas-Figur im Film. Mit diesem Namen ist das Spiel vorbei. Und auf der anderen Seite der Affäre wartet Banderas auf seine Frau.
Die Regisseurin Reijn, so kühn sie auch sein mag, hält sich brav an die Hollywood-Konventionen. Der bürgerliche Traum darf auf die Probe gestellt werden, aber er darf nicht zerbrechen. Dies ist kein Lars-von-Trier-Film. Und dennoch: der arme Banderas, der arme Ehemann! Degradiert zum «safe word» im scheuen BDSM-Spiel seiner Frau.
Dies gesagt, ist der Anblick von Kidman und Dickinson manchmal grandios. Für die Teenager-Tochter mag Kidman aussehen wie ein toter Fisch, für Dickinson ist ihr Hintern immer noch das Paradies. Oder ein halbes Paradies, denn auch er hat eine andere.
Die gesamte Literatur, das gesamte Kino erzählt uns unermüdlich, dass es nur einen Weg gibt, sein Herz zu verschenken: den unangemessenen Weg. Aber «Babygirl» scheint noch einen Schritt weiterzugehen. Der tote Fisch will nicht nur sein Herz verschenken; der tote Fisch will begehrt werden. Liebe muss auf Gegenseitigkeit beruhen, nein, nicht Liebe, Begehren. Nein, auch auf mehr als Gegenseitigkeit: Kidman würde lieber begehrt werden, als selbst zu begehren.
Es geht nicht um die Menopause
Miranda July, 50-jährig, bringt dies in ihrem Roman «All Fours» ebenso gut zum Ausdruck: «Ich hatte noch nie zuvor die Erfahrung gemacht, zu alt zu sein. Ich hatte zwar nicht immer genau das bekommen, was ich wollte – Männer waren nicht willens gewesen, sich meinetwegen von ihrer Frau zu trennen oder sich auf mehr als einen Flirt einzulassen –, aber selbst in diesen demütigenden Fällen hatte ich mein Recht auf Begehren nie infrage gestellt.»
Das Recht, zu begehren, ist das Recht, begehrt zu werden. Die Erzählerin ist eine 45-jährige Frau, eine selbsternannte kleine Berühmtheit, mit einem Ehemann und einem nonbinären Kind. Weil das Wort «Menopause» im Roman vorkommt, wurde er als «Menopausen-Roman» bezeichnet. Fälschlicherweise. Der Aufstieg des medizinischen Jargons – die Diagnose als Erklärung für alles und als Eckpfeiler der Identität – ist ein Stich in das Herz der Kunst und der Menschheit.
Die Frau mittleren Alters verschenkt ihr Herz an einen jungen Mann, der bei der Autovermietung Hertz arbeitet und in meiner Vorstellung aussieht wie Harris Dickinson. In der Hoffnung, ihren Liebsten besser verführen zu können, geht sie zu einem Fitnesstrainer, weil sie wieder den Hintern haben will, den sie einmal hatte. «Ich beschrieb ihm den Po, der mir vorschwebte, und er nickte ernst.»
Ja, Jesus hat das Recht, begehrt zu werden, aber wo immer Menschen anfangen, Rechte einzufordern, gibt es in der Regel auch ein Preisschild – in diesem Fall in Form einer Mitgliedschaft im Fitnessstudio. Vielleicht bringt uns ein neuer Bildersturm zur Einsicht, dass das Wort «Po» an sich schon schön genug ist.
Das Schaudern der Lust
Die Liebe zwischen der Halbberühmtheit und dem Hertz-Jungen wird trotz dem verbesserten Po nie ganz vollzogen. Aber es gibt eine andere ältere Frau, eine Freundin der Mutter des Hertz-Jungen, die ihn in die Liebe einführt. Nun, in den Sex. Die Mutter des Hertz-Jungen dachte: Ich werde seine «éducation sentimentale» selbst organisieren.
In dieser Hinsicht ist Miranda July weniger konventionell als Reijn. Kidmans Plan B ist Antonio Banderas. In Julys Fall führt Plan B zu Sex, der niemals mit dem mit einem toten Fisch verwechselt werden kann: «Fünfundvierzig Minuten später lief ich noch immer durch die Nacht. Ich wollte jetzt nicht mehr die ganze Welt vögeln – was für ein Wahnsinn, haha! –, jetzt wollte ich mir die Welt wie eine riesige Frucht einverleiben.»
Lange bevor der Tod zuschlägt, droht das Recht, begehrt zu werden, zu einem rein theoretischen Recht zu werden. Diese Erkenntnis macht das Schaudern der Lust – siehe July, siehe Reijn, siehe Coetzee – dringlich und intensiv. Das Leben zittert.
Und danach? Plan B. Plan C. Ginzburg wusste bereits: Die richtige Person ist die fast richtige Person, die nicht mehr richtige Person die bald wieder richtige Person. Wir müssen uns nur auf das «safe word» einigen.