In keiner anderen Schweizer Stadt ist die Scheidungsrate so hoch wie in La Chaux-de-Fonds. Ein Besuch im Jura, wo die Menschen wenig zu verlieren haben – und daraus manchmal das Beste machen.
An der Avenue Léopold-Robert, schnurgerade und so breit, als würde sie durch eine Metropole führen, gibt es die Liebe im Ausverkauf. Ein paar müde, herzförmige Ballons sind vom Valentinstag übrig geblieben, vier dicke Buchstaben formen das Wort «Love». An der Schaufensterscheibe klebt der Zusatz: «50 Prozent heruntergesetzt».
Vom Ausverkauf in der Liebe erzählen auch die Zahlen: In keiner Schweizer Stadt war die Scheidungsrate 2022 so hoch wie in La Chaux-de-Fonds. 122 Ehen wurden geschlossen, 74 geschieden, was eine einfache Scheidungsrate von 61 Prozent ergibt. Damit liegt La Chaux-de-Fonds (NE) weit über dem Schweizer Durchschnitt von 39,6 Prozent. Eine einmalige Sache ist das nicht, im Jahr 2020 war die Rate sogar noch höher. Zeit für einen Besuch im Jura, wo auf einem Plateau nahe der französischen Grenze die Liebe stirbt.
Der Anwalt, der nicht heiraten will
La Chaux-de-Fonds, 37 500 Einwohner, ist die fünftgrösste Stadt der Romandie. Aber eigentlich ist «la Tchaux», wie die Einheimischen sagen, ein grosses Dorf. Jean-Marie Röthlisberger kennt hier fast alle. Auf jeden Fall die Anwälte und die meisten Geschiedenen. Röthlisberger ist Anwalt, und weil La Chaux-de-Fonds eben ein Dorf ist, beginnt ein neuer Fall für ihn meistens mit: «Du, können wir kurz reden?»
Selber geheiratet hat Röthlisberger nicht; die Sache mit der Ehe habe ihm der Job etwas schal gemacht. Mit Fällen des Familienrechts habe er nämlich täglich zu tun. Und was die Statistik nicht abbilde, seien die vielen Trennungen von unverheirateten Paaren mit gemeinsamen Kindern, Häusern, Autos, die ebenfalls an seinem Schreibtisch verhandelt werden müssten.
«La Tchaux», die Arbeiterstadt
La Chaux-de-Fonds ist im 19. Jahrhundert mit der Uhrenindustrie gross geworden; genau genommen war es die Uhrenindustrie: Die ganze Stadt eine einzige grosse Manufaktur, so beschrieb es Karl Marx 1867 in «Das Kapital». Und eine Arbeiterstadt ist La Chaux-de-Fonds geblieben. Mit einem Unterschied: Das Geld, das die lokalen Patrons früher in die Stadt steckten, fliesst heute ab – nach Biel (Swatch), Genf (Cartier, Patek Philippe) oder gar Paris (LVMH), wo sich die Hauptsitze der Luxusmarken befinden.
Viele hier oben machen eine Lehre und heiraten jung. Vielleicht bleibt dann kaum Zeit, sich selber zu sein, bevor man die Frau oder der Mann von jemand anderem wird. «Wenn sie dann hier bei mir sitzen», sagt Röthlisberger mit einer vagen Geste in den Raum, «spüre ich vor allem Enttäuschung – die meisten erwarten, dass der Partner sie für immer glücklich macht. Aber so funktioniert das nicht. Man muss selber lernen, glücklich zu sein.»
Die Stadt hat auch eine der höchsten Arbeitslosenquoten der Schweiz, dazu viele Sozialhilfeempfänger. Röthlisberger sagt: «Wenn es mit der Ausbildung und der Karriere nicht so gut läuft, braucht es stattdessen die Ehe als sozialen Erfolg.» Die Hochzeit als Grund, nicht nur die Liebe, sondern endlich einmal auch ein bisschen sich selbst zu feiern. Der nächste soziale Erfolg sei dann oft nicht die Beförderung, sondern die erste Schwangerschaft. «Aber wenn Kinder kommen, hören viele auf, ein Paar zu sein, und sind stattdessen nur noch Eltern.» Man verliert vor lauter gemeinsamem Alltag das Zusammensein.
Alles begann mit einer Feuersbrunst
In La Chaux-de-Fonds, der Stadt der geraden Strassen, machen die Lebenswege manchmal scharfe Kurven. Aber La Chaux-de-Fonds war auch immer eine Stadt, deren Bewohner an ihren Krisen wuchsen. Das zeigt ihre Geschichte. Denn es war kein glücklicher Zufall, der den Ort endgültig zur Hochburg der Zeitmesserei machte, sondern eine Feuersbrunst.
In der Nacht vom 4. auf den 5. Mai 1794 brach ein Brand aus, der drei Viertel des Dorfes, das La Chaux-de-Fonds damals tatsächlich noch war, zerstörte. Die neue Uhrmacherstadt wurde am Reissbrett geplant: Breite Strassen, damit kein Feuer sich je wieder so rasant ausbreiten kann. Man sollte rasch von der einen zur nächsten Manufaktur kommen und genügend Platz haben, um im Winter den vielen Schnee zu räumen. Schachbrettförmig angelegt, damit möglichst viel Sonnenlicht auf die Arbeitstische der Uhrmacher fällt.
Das zahlte sich aus: Am Ende des 19. Jahrhunderts verdiente La Chaux-de-Fonds mehr Geld als fast jede andere Uhrenstadt. Sie exportierte nicht nur Feinmechanik, sondern auch grosse Namen: Der Architekt Charles-Édouard Jeanneret-Gris wurde als Le Corbusier weltberühmt, Louis Chevrolet wanderte nach Amerika aus und legte dort den Grundstein für ein Automobilimperium, und der Schriftsteller Frédéric Louis Sauser reiste gar mehrmals um die Welt und blieb dieser als Blaise Cendrars in Erinnerung.
Doch dann kam es zur nächsten Katastrophe: Die Quarzuhr wurde erfunden. Sie wurde schneller, billiger und vor allem nicht in der Schweiz produziert. Eine Uhrmacherei nach der anderen ging ein. Es muss sich angefühlt haben, als nähme das Ende der Welt hier und jetzt seinen Anfang.
Das Ende der Welt
Vom tatsächlichen Ende der Welt und vom Ende einer Beziehung erzählt auch Julie Guinands Roman «Survivante». Die Autorin ist in La Chaux-de-Fonds geboren und hat hier ihren Weltuntergangsroman angesiedelt, der kürzlich auf Deutsch übersetzt wurde.
Guinand lacht ob der Scheidungsstatistik. Die nicht einmal zehn Kilometer entfernte Nachbarstadt Le Locle inszeniere sich nämlich als Hauptstadt des Valentinstags, «und wir sind Scheidungshauptstadt; so nah liegen also Glück und Pech beieinander». Sie fühle sich sehr wohl hier, aber finanziell gehe es vielen nicht so gut. Vielleicht sei das ein Grund für die vielen Scheidungen, sagt Guinand. Ein leeres Portemonnaie kann schwer auf dem Herzen liegen.
Immerhin ist hier aber auch alles günstiger als in Lausanne oder Zürich. Einen Kaffee gibt es für 2 Franken 50, ein Bier kostet nicht viel mehr, und auch die Wohnungen sind bezahlbar. Das billige Leben ziehe auch viele Künstler an, sagt Guinand. «Das sorgt für ein sehr abwechslungsreiches Kulturleben und vielleicht auch für mutigere Lebensläufe», sagt sie.
Die heiklen Phasen einer Ehe
Guinand, nicht verheiratet, aber der Liebe wegen aus Lausanne in ihre Heimatstadt zurückgekehrt, erlebt gerade die Scheidung ihrer Eltern. Die Zeit rund um die Pensionierung sei eine von zwei heiklen Phasen vieler Ehen, sagt die Soziologin Fiona Friedli. Die erste ist der Moment, in dem der Nachwuchs selbständiger wird und aus den Eltern wieder ein Paar wird – sofern man sich nicht zwischen Windeln und Hausaufgaben verloren hat.
Die einfache Scheidungsrate, die La Chaux-de-Fonds so schlecht dastehen lasse, sei allerdings mit Vorsicht zu geniessen, sagt Friedli. Es handle sich dabei lediglich um das Verhältnis zwischen Eheschliessungen und Scheidungen im gleichen Jahr. Sprich: In La Chaux-de-Fonds entscheiden sich weniger Menschen dafür, eine Ehe einzugehen, und mehr dafür, die bereits geschlossene Verbindung wieder aufzulösen, als in anderen Kantonen. Über die Qualität und die Länge der Ehen sagen die Zahlen nichts aus.
Beim Bundesamt für Statistik zeigen die kantonalen Zahlen: Bei der Ehedauer spielt der Kanton Neuenburg insgesamt zwar im letzten Drittel mit, Schlusslicht ist er aber nicht. Das ist Zürich, die Stadt mit der tiefsten Scheidungsquote. Hier werden zwar viele Ehen geschlossen, besonders lange halten tun sie aber nicht.
Streikfahnen statt Frühlingsblumen
La Chaux-de-Fonds ist eine der höchstgelegenen Städte Europas, auf 1000 Metern über Meer hält sich der Winter besser als im Tal. Während in Zürich oder Bern längst die Krokusse blühen, findet man das Violett hier oben vor allem als viereckiges Stoffstück im Wind: die Frauenstreikfahne. Seit dem 14. Juni 2019 weht sie wieder öfter, besonders in der Romandie. Auch das war schon immer so: Während die Schweiz am 1. Februar 1959 das Frauenstimmrecht auf nationaler Ebene ablehnte, nahmen die Stimmbürger in der Waadt es gleichentags auf kantonaler Ebene an. Neuenburg folgte noch im gleichen Jahr. Bis der erste Deutschschweizer Kanton, Basel-Stadt, das Frauenstimmrecht annahm, sollten noch sieben Jahre vergehen.
«In den 1970er Jahren wurde den feministischen Bewegungen vorgeworfen, für den Anstieg der Scheidungsrate verantwortlich zu sein. Dieser Vorwurf wird immer wieder erhoben, vor allem von konservativen politischen Gruppierungen», sagt Soziologin Friedli. Studien, die das bestätigen, gebe es allerdings keine. Feministisches Engagement in der Schweiz hat unter anderem dazu geführt, dass Frauen auch bei Familiengründung autonomer bleiben, als früher. Das wiederum dürfte tatsächlich den Nebeneffekt haben, dass finanzielle Abhängigkeit verschwindet oder zumindest schrumpft – und Frauen Beziehungen, in denen sie nicht glücklich sind, leichter verlassen können.
So erstaunt es nicht, dass beim Anwalt Jean-Marie Röthlisberger meistens die Frauen zum Erstgespräch kommen. «Ich bewundere die Frauen, die sich dazu entscheiden, eine Situation zu beenden, in der sie nicht mehr glücklich sind – ohne zu wissen, was danach kommt. Das braucht viel Mut», sagt er. Margherita, eine seiner Mitarbeiterinnen, ist selber geschieden – und wieder verheiratet. Sie glaube nicht, dass La Chaux-de-Fonds die Stadt sei, in der die Liebe sterbe. «Wenn, dann haben wir hier viel zu viel davon», sagt sie lachend.
In La Chaux-de-Fonds, wo man grüsst, wenn man sich auf der Strasse sieht, trifft Röthlisberger oft auf ehemalige Klienten: «Früher oder später kommen sie mir alle mit jemand Neuem an ihrer Seite entgegen.» Vielleicht ist La Chaux-de-Fonds nicht die Stadt, in der die Liebe stirbt. Sondern die Stadt, in der die Menschen gelernt haben, neu anzufangen.