Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik wird ein Militärverband dauerhaft ins Ausland entsendet. Bisher wurde nur Wald gerodet, wo schon bald 5000 Soldaten stationiert sein sollen. Eine Ortsbesichtigung und viele Gespräche verdeutlichen, dass es für die Litauer um die Existenz geht.
Die Strasse ist nagelneu, ein weisses Betonband zieht sich durch den Wald. Störche schweben über den Wipfeln. Oberst Rimantas Jarmalavičius stoppt den Geländewagen, steigt aus, stellt sich an den Rand einer Rodungsfläche, breitet die Arme aus und sagt, was man sich gerade nur schwer vorstellen kann: «Hier kommen die Unterkünfte und die Sportanlagen hin.» Hinter ihm ragen Baumstümpfe und Büsche aus dem Waldboden. Er steigt wieder ein, fährt zehn Minuten, steigt wieder aus, gleiche Kulisse, gleiche Geste: Hier komme die Schiessbahn für die Panzer hin, erklärt er, und dort die für schwere Maschinengewehre.
Wald, nichts als Wald, herrliche Natur, Frösche quaken in Tümpeln, Dörfer am Strassenrand, und hier, eine halbe Autostunde von der Hauptstadt Vilnius entfernt, sollen in gut drei Jahren die meisten der 5000 Soldaten der deutschen Litauen-Brigade stationiert sein. Man braucht etwas Fantasie, um sich vorzustellen, dass bis Ende 2027 fertig sein soll, was noch nicht ansatzweise zu sehen ist. Aber Oberst Jarmalavičius, den Kommandanten des Gefechtszentrums Rūdninkai, kann das nicht beirren. In ein paar Wochen würden die Verträge mit den Baufirmen unterzeichnet, sagt er. Dann könne es losgehen.
Rūdninkai, diesen Namen haben mutmasslich noch nicht viele Menschen in Deutschland gehört. Doch das ist der Ort, an dem ein Paradigmenwechsel in der Sicherheitspolitik der Bundesrepublik sichtbar werden soll. Erstmals in der Geschichte des Landes wird ein Militärverband dauerhaft im Ausland stationiert. Vor gut einem Jahr haben Bundeskanzler Olaf Scholz und sein Verteidigungsminister Boris Pistorius ohne Absprache mit dem Bundestag und dem Kabinett diese Entscheidung getroffen. Seitdem fragen die Litauer, warum die 5000 deutschen Soldaten nicht schon längst da sind.
Um diese Ungeduld zu verstehen, muss man nur mit einigen der 2,9 Millionen Einwohnern des Landes reden, mit Unternehmern, Studenten und Politikern. Zunächst aber steht Oberst Jarmalavičius vor einer Karte mit vielen kleinen Kästchen, Quadraten und Rechtecken und dem Umriss eines Sees, gerahmt von einer roten Linie. Das ist die kartografische Darstellung des Militärgeländes, 20 Kilometer von Nord nach Süd und 15 Kilometer von Ost nach West, insgesamt 170 Quadratkilometer gross. Die Orte sind schon eingezeichnet, an denen die Unterkünfte, die Stabs- und Kompaniegebäude, die Schiessbahnen und alles andere geplant ist, was eine schwere Kampfbrigade braucht.
Ein früherer sowjetischer Bombenabwurfplatz
Dann deutet Jarmalavičius auf einen rosa schraffierten Fleck auf der Karte. Dort hätten sowjetische Kampfflugzeuge einst den Abwurf von Bomben trainiert, erklärt er. Das Gelände sei stark verseucht. Unter die Karte hat er Fotos verrosteter Altmunition gepinnt. Das gesamte Gelände werde untersucht, aber sie bekämen das pünktlich hin. Eine sportliche Aufgabe: In Deutschland sind noch immer nicht alle Übungsplätze der früheren Roten Armee von Altlasten geräumt.
Während Jarmalavičius erklärt, dass sie in Rūdninkai innerhalb der zurückliegenden 18 Monate 1600 Hektaren Wald gerodet und 30 Kilometer Strassen gebaut haben, fallen 50 Meter entfernt Schüsse. Litauische Soldaten trainieren mit Handwaffen. Der Oberst redet über den Lärm hinweg und sagt, im ersten Halbjahr des kommenden Jahres würden die ersten Gebäude fertig sein.
Nein, fährt er fort, die 500 Einwohner von Rūdninkai habe es nicht gestört, dass Teile des Waldes abgeholzt wurden. Sie freuten sich auf die Deutschen, man müsse nur aufpassen, dass sie, die Dorfbewohner, nicht gerade Pilze sammelten im Wald, wenn Schiesstraining stattfinde, das sei hier Volkssport. Dann lacht Jarmalavičius, versichert noch einmal, dass alles pünktlich fertig sein werde, und fährt davon.
Es gehört eine grosse Portion Optimismus dazu, innerhalb der nächsten drei Jahre einen riesigen Militärstützpunkt aus dem Waldboden stampfen zu wollen. Litauens Regierung plant mit Investitionen in Höhe von einer Milliarde Euro. Das ist die grösste staatliche Investition in die Infrastruktur seit der Unabhängigkeitserklärung 1990 und entspricht etwa der Hälfte des aktuellen Verteidigungsbudgets.
Ein Land im Verteidigungsmodus
Doch für seine Sicherheit vor Russland ist das Land zwischen Kaliningrad, Lettland und Weissrussland bereit, so gut wie jeden Preis zu zahlen. Litauen ist ein Staat im Verteidigungsmodus. Man kann das etwa an einem Ort erfahren, an dem sich früher eine Fabrik für Unterwäsche und Strümpfe befand. Heute liegt hier die «Cyber City», ein Nukleus für das mehr als zweiprozentige Wachstum, das in diesem Jahr für Litauens Wirtschaft prognostiziert wird.
Hier haben Start-ups ihren Sitz und kleine, international erfolgreiche Unternehmen. An einem Tresen sitzen fünf Menschen auf Barhockern: ein Reserveoffizier und Chef der Stiftung für nationale Verteidigung, dann der Chef des grösstes Wirtschaftsverbandes, eine Rechtsanwältin in orangem Businessanzug, eine junge Unternehmerin in legerer Chino mit T-Shirt. Daneben der junge CEO einer IT-Firma, deren Mitarbeiter freiwillig 100 Kamikazedrohnen pro Monat für die Ukraine bauen. Sie sind gekommen, um über etwas zu reden, das sie verbindet: Sie wollen, dass ihr Land nicht wie bisher 2,8 Prozent, sondern vier Prozent seines Bruttoinlandprodukts für die Verteidigung aufbringt.
Man stelle sich vor, der Bundesverband der Deutschen Industrie ruft zu einer Unterschriftenaktion für ein höheres Bundeswehrbudget auf und bringt innerhalb von 23 Tagen gut 1,8 Prozent der Deutschen dazu, für die Petition zu stimmen, so dass sich der Bundestag damit befassen muss. So ist es in Litauen geschehen. Erst vor wenigen Wochen haben Wirtschaftsvertreter des Landes die 4-Prozent-Initiative ins Leben gerufen. Innerhalb von etwas mehr als drei Wochen hätten 50 000 Einwohner im Internet ihre Unterstützung erklärt, heisst es. Sie wollten, dass ihre Regierung die Verteidigungsausgaben deutlich erhöht. Das Parlament muss sich nun damit beschäftigen.
Wenn man wissen will, warum sie das fordern, kann man dem Reserveoffizier Vaidotas Malinionis zuhören. Wladimir Putin und Russland befänden sich im Krieg mit dem Westen, die Maschinerie laufe und sei so schnell nicht mehr zu stoppen, sagt er. Das ganze Land werde mobilisiert, «der Zug fährt» und es sei nicht auszuschliessen, dass er erst in Berlin zum Stehen komme. Russland sei ein Mafiastaat, so Malinionis, der den Krieg brauche, um zu überleben, der nur Härte verstehe und Diplomatie als Schwäche auslege.
Verteidigung, um Wirtschaftswachstum abzusichern
Dovilė Burgienė, Wirtschaftsanwältin und Präsidiumsmitglied der 4-Prozent-Initiative, argumentiert dagegen aus wirtschaftlicher Perspektive. Litauens Ökonomie wachse, die Menschen arbeiteten gern und viel, sagt sie. Doch die Geschäfte seien nachhaltig nicht sicher, «weil wir einen bösen Nachbarn haben». Dieses Wort benutzen alle in dem Gespräch. Potenzielle Investoren, so Burgienė, fragten, wie sicher ihre Geschäfte seien, wenn Litauen sich kaum verteidigen könne. Deshalb sei es so wichtig, dass die deutsche Kampfbrigade käme, und deshalb müsse ihr Land mehr Geld für Verteidigung ausgeben. Dazu seien die Unternehmer auch bereit, höhere Steuern zu zahlen.
Man kann in der überschaubaren, schönen Hauptstadt Vilnius mit ihren 500 000 Einwohnern innerhalb kurzer Zeit viele Gespräche führen. Die Wege sind kurz, die Redebereitschaft ist gross. Da ist zum Beispiel Ieva Gajauskaitė, Dozentin für hybride Kriegsführung an der litauischen Militärakademie. Sie hat eine ungewöhnliche Botschaft an die Soldaten der deutschen Brigade: «Bringt eure Frauen und Kinder mit und geht nicht auf Tinder. Hier lauern viele Venusfallen.»
Um diese Aussage zu verstehen, muss man ein paar Jahre zurück gehen. Es war 2020, als nach den Wahlen und den anschliessenden Protesten im benachbarten Weissrussland viele Flüchtlinge nach Litauen kamen. Damals gingen die Litauer davon aus, dass es sich bei den meisten von ihnen um politisch Verfolgte handelte. Heute scheinen sie sich dessen nicht mehr sicher zu sein. Es gebe russischsprachige Frauen, die damals über die Grenze gekommen seien, die vermutlich Spione des Putin-Regimes seien und auf deutsche Soldaten angesetzt werden könnten. Weil sie sich dazu als Partnerin anbieten sollen, werden sie in der Welt der Nachrichtendienste auch «Venusfallen» genannt.
Es sind Erzählungen wie diese, die von der Sorge der Litauer vor Russland und der Unversöhnlichkeit mit dem «bösen Nachbarn» zeugen. Das wird auch im Gespräch mit Žygimantas Pavilionis, dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses im litauischen Parlament, deutlich. Jede Familie in seinem Land habe auf die eine oder andere Art traumatische Erfahrungen mit Russland, sagt der Politiker von der christlichdemokratischen Regierungspartei «Vaterlandsbund». Niemand hier wolle je wieder unter der Herrschaft Moskaus leben.
Finanzierung der Brigade bisher unklar
Deshalb sei die deutsche Brigade eine Art von Lebensversicherung für Litauen, auch wenn es leider noch drei Jahre dauere, ehe sie einsatzbereit sei. Die Deutschen sollten verstehen, dass die Zeit dränge, sagt Pavilionis. So wie Russland vor ein paar Jahren der Ukraine gedroht habe, so tue es das heute gegenüber den baltischen Staaten.
Das ungeduldige Warten der Litauer auf die Ankunft der Brigade 45, so die offizielle Bezeichnung des Verbandes, mit seinen Kampf- und Schützenpanzern, Artilleriegeschützen, Pionier- und anderem Gerät ist spürbar im Land. Dabei ist bisher nicht einmal klar, ob die Brigade, so wie es Boris Pistorius, der deutsche Verteidigungsminister, seit einem Jahr verspricht, wirklich kommen wird. Bisher sind erst die 21 Soldaten des Vorauskommandos vor Ort und nach wie vor ist die Stationierung der 5000 Soldaten mit ihrer Ausrüstung nicht finanziert.
Elf Milliarden Euro soll die Brigade kosten, eine Summe, die im Haushalt bisher nicht berücksichtigt ist. Pistorius hatte zuletzt etwa 6,5 Milliarden Euro mehr für den regulären Wehretat im kommenden Jahr gefordert. Doch derzeit sieht es nicht so aus, als lasse sich dies durchsetzen. Sowohl Finanzminister Christian Linder von der FDP, der auf die Einhaltung von Sparvorgaben pocht, als auch das linke Lager innerhalb der SPD, das den Abbau von Sozialleistungen für grössere Verteidigungsausgaben ablehnt, sind dagegen.
Für Deutschland wäre ein Scheitern der Brigade ein sicherheitspolitischer Offenbarungseid und ein enormer Vertrauensverlust innerhalb der Nato. Für die Litauer aber wäre es eine Katastrophe, die sich dort offenkundig niemand ausmalen will. Ja, sagt der Aussenpolitiker Žygimantas Pavilionis, er verfolge die Budgetdebatte in Deutschland und sage dazu, dass Zaudern einen hohen Preis kosten werde. «Putin lebt von eurer Angst und wird weiter machen, wenn wir ihn nicht stoppen.»
«Kein Zweifel, wir würden kämpfen»
Gabrielius Landsbergis, der litauische Aussenminister, erklärt im Gespräch, es gebe für ihn keinen Zweifel, dass die Deutschen ihr Versprechen hielten. Und Vaidotas Urbelis, politischer Direktor im Verteidigungsministerium, sagt, ein Scheitern des Brigade-Projekts sei schlicht keine Option.
Deutschland, das mag dort vielleicht noch nicht überall angekommen zu sein, hat sich mit seiner Zusage, eine schwere Brigade dauerhaft nach Litauen zu schicken, grosse Verantwortung aufgeladen. Kaum jemand in dem baltischen Land lehnt die Stationierung des Verbandes ab. 85 Prozent der Einwohner, ergab eine Umfrage im Dezember 2023, sind überzeugt, dass die deutsche Brigade die eigene Sicherheit stärken würde. Dazu gehören auch drei junge Studenten der Politikwissenschaften an der Universität von Vilnius, die nach der Unabhängigkeit ihres Landes von der Sowjetunion 1991 geboren wurden und Russland nur noch «als Unterdrücker» aus den Geschichtsbüchern kennen.
Auch sie wollen, dass die Brigade so schnell wie möglich kommt, auch sie wollen, dass ihr Land mehr in die Verteidigung investiert. Sie hoffe, dass die Regierung alles tue, damit die deutsche Brigade gut funktionieren könne, sagt die 19-jährige Gabrielė Kazlauskaitė. Sie trägt Hose und Blazer in schwarz, dazu weisse Turnschuhe und berichtet, die ersten drei Wochen nach dem russischen Überfall auf die Ukraine immer ihren Pass bei sich gehabt zu haben aus Angst vor einem Angriff auch auf Litauen.
Der ein Jahr ältere Laurynas Vilkas könnte mit seinem hellblauen Hemd und der Chino auch der Jungen Union, der Jugendorganisation der CDU, angehören. Ihm sei klar, sagt er, dass eine einzelne Brigade die Russen nicht stoppen werde. Aber sie sei ein Versprechen der Deutschen, dass die Litauer im Kriegsfall nicht allein dastünden. Das gebe ihm ein gutes Gefühl. Gytis Kazakevičius, mit 21 Jahren der Älteste in der Runde, ergänzt, er könne verstehen, dass sich die Deutschen die Entscheidung nicht leicht machten. Aber sie müssten auch nicht mit Russland als Nachbar leben.
Am Ende bleibt die Frage, wie sie es denn selbst mit dem Kampf gegen Russland sehen. Doch da gibt es kein Zögern, kein Nachdenken. «Kein Zweifel», sagen die drei Studenten, «wir würden kämpfen.»