Khaled Hakami erforscht Jäger-und-Sammler-Gesellschaften, auch die Maniq in Thailand. Sie kennen keinen Besitz, keinen Wettstreit, keine Anführer und keine andere Zeit als das Jetzt. Hakami lernte dabei auch: Nicht die Maniq sind seltsam, sondern wir.
Herr Hakami, Sie haben bei den Maniq in Südthailand gelebt und ihre Gesellschaft erforscht. Die Maniq leben nomadisch – ohne jede Form von Landwirtschaft – im Regenwald. Wo unterscheidet sich das Leben der Maniq am fundamentalsten von unserem?
Khaled Hakami: Oje, wie viele Stunden haben Sie Zeit? Da kann man nur sagen: in einfach allem. Alles ist ganz anders als bei uns. Ich weiss gar nicht, wo ich anfangen soll.
Beschreiben Sie doch bitte ein wenig die Lebensumstände dort.
Die Maniq sind eine klassische Jäger-und-Sammler-Gesellschaft, das heisst, sie leben in Gruppen von dreissig bis fünfzig Menschen ohne jede Landwirtschaft oder Behausung. Sie ziehen etwa alle drei Wochen an einen anderen Platz im südthailändischen Regenwald. Das tun sie sehr wahrscheinlich seit etwa 40 000 Jahren, in dieser Zeit haben sie sich kaum mit der umliegenden Bevölkerung vermischt. Sie sehen auch ganz anders aus als die Thai. Mittlerweile hat der Kontakt nach aussen zugenommen, aber bis vor wenigen Jahrzehnten verwendeten sie kein Metall, sondern nur einfachste Stein- und Holzwerkzeuge. Sie sammeln Knollen und Früchte, zusätzlich jagen sie Affen und Flughunde mit dem Blasrohr. Gegessen wird fast alles vom Tier, und das nährstoffreiche Blut wird getrunken. Alles ist sehr einfach, die Sachen werden am Feuer angebraten, es gibt keine Töpfe. Auch wenn sie keine ausgeklügelten Rezepte haben, ist Essen sehr wichtig, die meisten Gespräche drehen sich darum.
Eine althergebrachte Vorstellung von solchen Gesellschaften ist ja, dass fast nur Fleisch gegessen wird.
Nein, Früchte und stärkehaltige Knollen machen etwa 80 Prozent der Ernährung aus. Gemüse oder so etwas essen sie allerdings eher nicht. Der hohe Pflanzenanteil in ihrer Ernährung liegt aber natürlich auch am Breitengrad. Im Dschungel am Äquator gibt es ein grosses Pflanzenangebot. Je weiter man nach Norden kommt, desto mehr Fleisch essen Jäger und Sammler.
Zur Person
Khaled Hakami
Und noch ein Klischee: Jagen nur die Männer, und die Frauen sammeln?
Es gibt schon eine Arbeitsteilung nach Geschlechtern, aber keine scharfe Grenze. Bei den Maniq jagen Männer eher, und Frauen sammeln eher. Aber das kann bei anderen Jägern und Sammlern anders sein. Doch wichtig ist, dass sie die Tätigkeiten nicht unterschiedlich bewerten. Das eine ist nicht weniger wert als das andere. Und das ist eben auch Ausdruck der fundamentalen Unterschiede zwischen uns, den sogenannten Weird People, und diesen Menschen: Sie leben extrem egalitär, es gibt keine Hierarchien, keine Anführer, keine sozialen, politischen oder ökonomischen Unterschiede – und praktisch keine Gewalt. Es gibt keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern und auch nicht zwischen Kindern und Erwachsenen.
Wir sind also Weird People? Was soll das heissen?
Das ist ein Begriff aus der anthropologischen Forschung. Er steht für die Begriffe «western» (westlich), «educated» (gebildet), «industrialized» (industrialisiert), «rich» (wohlhabend) und «democratic» (demokratisch) und bezeichnet uns westliche, europäisch geprägte Menschen. Der Begriff wurde vom Anthropologen Joseph Henrich geprägt und ging aus der Erkenntnis hervor, dass die psychologische Forschung in der Regel genau diese Menschen beforscht und dann davon ausgeht, die Ergebnisse seien universell für «den Menschen». Dabei ist es kein Zufall, dass das Akronym «weird» auch «seltsam» auf Englisch bedeutet. Denn die Menschheit lebte 95 Prozent ihres Daseins in Jäger-und-Sammler-Gesellschaften, die vollkommen anders organisiert sind. So wie heute leben wir erst seit etwa hundertfünfzig Jahren. Unsere psychische und kulturelle Prägung ist also eine Ausnahmeerscheinung in der Geschichte der Menschheit, deshalb sind wir «weird».
Was ist denn so «weird» an uns?
Vor allem unsere individualistische Lebensweise ist sehr speziell. Menschheitsgeschichtlich betrachtet, lebten Menschen die meiste Zeit eher kollektivistisch. Und ich kann Ihnen sagen, viele Dinge, die wir hier als universalistisch menschlich betrachten, sind es in Wahrheit nicht.
Zum Beispiel?
In unserer Gesellschaft ist das Individuum im Zentrum. Es strebt beständig nach Selbstverwirklichung. Wir wollen uns selbst darstellen, Abenteuer erleben, neue Menschen und Städte kennenlernen, unsere Potenziale entfalten, was immer das auch im Einzelfall sein mag. Doch ich habe bei den Maniq erkannt, dass sehr viele unserer Bedürfnisse nur Konstrukte unserer Kultur sind. Zum Beispiel würde ein Maniq niemals auf die Idee kommen, auf einen Berg zu rennen oder an einen Strand zu wollen. Völlig sinnlos. An einem Strand ist es heiss, man ist Wind und Wellen ausgesetzt, und irgendwo hochzulaufen, ist anstrengend. Die Maniq arbeiten zwei bis vier Stunden am Tag, das reicht, um die nötigen Nahrungsmittel zu beschaffen. Den Rest der Zeit ruhen sie sich aus, sie liegen herum, rauchen, kuscheln – modern ausgedrückt: sie chillen.
Aber gibt es nie Konkurrenz, zum Beispiel darum, wer der beste Jäger ist?
Nein, sie haben in ihrer Sprache gar keine Möglichkeit, das auszudrücken, weil es keinen Komparativ und keinen Superlativ gibt. Genauso wenig, wie es Vergangenheits- und Zukunftsformen gibt, das ist alles nicht wichtig. Meine eigene Jugend war von Sport geprägt, und ich dachte immer, die Freude am Wettkampf sei eine menschliche Universalie. Aber nein, die Maniq und andere ähnliche Gesellschaften sehen gar keinen Sinn darin. Die Maniq kennen viele Spiele, aber kein einziges, bei dem man gewinnen oder verlieren kann – die Spiele enden dann, wenn einer keine Lust mehr hat. Wettbewerb ist ihnen völlig fremd, während in unserer Gesellschaft kaum ein Bereich frei davon ist.
Das hört sich ziemlich entspannt an. Aber auch seltsam ziellos. Haben die Maniq keine Sehnsüchte?
Ich konnte natürlich nicht in ihren Kopf schauen, aber so Dinge wie Arbeitsethos, Leistungsbereitschaft und Weiterentwicklung haben für sie keine Bedeutung. Das ist typisch für uns Weird People. Sie kommen mit dem aus, was sie haben. Warum mehr tun?
Also kuscheln, rauchen und essen sie ihr ganzes Leben und bekommen Kinder?
Was ihre «Ausbildung» betrifft, sind sie fertig mit sechs oder sieben Jahren. Dann können sie alles, was nötig ist zum Überleben. Als frühe Teenager bekommen sie dann das erste Kind, das heisst, sie sind in ihren Zwanzigern bereits Grosseltern, in den Dreissigern Urgrosseltern. Gleichzeitig passiert zwischen sechs und sechzig Jahren im Prinzip nichts mehr – man jagt und sammelt, holt Wasser, baut Unterstände und dergleichen. Ein riesiger Unterschied, wenn man an unsere zahlreichen Lebensphasen denkt und daran, was wir alles anstreben und erleben wollen.
Und dann sind sie auch noch friedfertig und gehen sich bei Streitigkeiten aus dem Weg. Abgesehen von der wenig ausgeprägten Kochleidenschaft klingt das wie eine Utopie. Was können wir von den Maniq lernen?
Kurz gesagt: nichts. Diese Frage basiert in der Regel auf ethnoromantischen Vorstellungen, die wenig mit der Realität zu tun haben. Viele betrachten diese Lebensweise entweder als rückständig oder als paradiesische Utopie, beides ist Unsinn. Nach heutigem Kenntnisstand war die neolithische Revolution, also die Einführung der Landwirtschaft, nicht unbedingt eine Errungenschaft, sondern einfach eine Reaktion auf eine Klimaveränderung. Diese Revolution hat sowohl neue Probleme als auch Lösungen gebracht. Doch da gibt es kein Zurück mehr: Diese Art von Gesellschaft – ohne Hierarchie, ohne Eigentum, ohne Anführer, ohne Leistungsgedanken – funktioniert nachweislich nur in Gruppengrössen von höchstens 150 Menschen. Danach ist Schluss, und eine grössere Gesellschaft ist nicht mehr in dieser Weise egalitär zu organisieren. Ausserdem wäre das Leben dort für uns schwierig, weil wir aufgrund unserer Weird-Erziehung bestimmte Dinge sehr schätzen, die dort fehlen.
Welche Dinge würden wir bei den Maniq vermissen?
Es gibt kein Konzept von Eigentum. Ihr Warentausch basiert auf einer Nehmerkultur, was wiederum Ausdruck der Gleichberechtigung ist. Denn Geben ist bereits ein Ausdruck von Hierarchie, weil ich als Geber ja kontrolliere, wem ich was und wie viel gebe. Das existiert in einer reinen Nehmerkultur nicht. Wenn die Menschen etwas brauchen, nehmen sie es sich einfach, ohne dich dabei anzuschauen. Es gibt folglich nicht einmal ein Wort für «danke». Diese Art des Tauschs ist für Weird People wie uns schwer nachzuvollziehen. Wir bezeichnen ja nicht nur Gegenstände, sondern auch Personen als «mein», «dein» – Wörter, die bei den Maniq völlig fehlen.
Und was war das Schwierigste für Sie?
Mit Abstand der Verlust jeder Privatsphäre. Sie wachen dort auf, und dreissig Augenpaare starren Sie an. Sie gehen ins Bett oder wollen auf die Toilette, und Sie müssen das unter aller Augen tun. Ich und mein Forscherkollege waren ja vor allem Entertainment für die Maniq, wir wurden ständig ausgelacht.
Warum das?
Na ja, wir waren ja technisch auf dem Niveau von Zwei- bis Dreijährigen. Wir können ja kaum etwas, was für das Leben dort wichtig ist. Das fanden die Maniq sehr unterhaltsam.
Waren die Maniq nicht rasend interessiert an Smartphones oder Messern oder anderen typischen Gegenständen unserer Welt?
Absolut nicht. Eine andere universale Eigenschaft des Menschen soll ja die Neugier sein. Das ist nicht wahr. Wir interessieren uns hauptsächlich für das, was in der Welt unserer kulturellen Codes relevant ist. Wir zeigten den Maniq Fotos von uns vor dem Schreibtisch und bei Tätigkeiten, denen wir normalerweise nachgehen. Das liess sie völlig kalt. Was sie aber interessant fanden, waren Fotos von anderen Gemeinschaften, die so leben wie sie. Unsere Welt ist für sie vollkommen bedeutungslos. So wie wir ticken, haben die meisten Menschen, die je auf dem Planeten gelebt haben, nie getickt.