Die Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation beginnt am Montag. Die WTO ringt wegen Handelskriegen und Protektionismus um ihre Bedeutung. Ralph Ossa warnt vor der Macht des Stärkeren im Welthandel.
Die zwölfte Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) vor zwei Jahren in Genf war ein Wechselbad der Gefühle. Am Schluss war das Ergebnis besser als von vielen erwartet. Die 164 Mitgliedsstaaten gaben ein starkes Lebenszeichen für ein regelbasiertes Handelssystem und den Multilateralismus ab. Die Ministerkonferenz ist das höchste Entscheidungsgremium der Organisation.
Die grossen systemischen Fragen sparten sich die WTO-Mitglieder aber auf. Wenn sich die Delegierten ab dem 26. Februar in Abu Dhabi zur dreizehnten Ministerkonferenz treffen, wird die wichtigste Frage immer noch lauten: Wie kann die WTO angesichts von Protektionismus, Blockbildung in der Weltwirtschaft, geopolitischen Rivalitäten und Kriegen relevant bleiben?
Der WTO-Chefökonom Ralph Ossa geht im Gespräch auf die Kritik an der Organisation ein und hält ein Plädoyer für den freien Handel. Der 45-jährige Deutsche ist seit 2023 bei der Genfer Institution tätig und seit 2017 Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Zürich.
Herr Ossa, vor zwei Jahren herrschte bei der WTO Aufbruchstimmung. Es war zu Einigungen gekommen. Dieses Gefühl scheint nun verflogen zu sein. Steht die WTO wieder einmal vor dem Abgrund?
Das sehe ich nicht so! Die Rahmenbedingungen sind natürlich nicht einfach. Verhandlungen sind immer schwierig. Die Stimmung vor der Ministerkonferenz erlebe ich aber als positiv.
Eine wichtige Frage betrifft die Ernennung von Richtern für das Schiedsgericht, das Streitigkeiten unter den Handelspartnern schlichtet. Die USA blockieren die Wahl. Vor zwei Jahren wollte man dies bis 2024 lösen.
Das stimmt. Es besteht die Hoffnung, dass an der Ministerkonferenz signifikante Fortschritte erzielt werden. Eine umfassende Lösung schon bei der Ministerkonferenz ist aber wenig wahrscheinlich. Handelsregeln sind tatsächlich nur dann glaubwürdig, wenn sie durchsetzbar sind. Dazu ist auch ein funktionierendes Schiedsgerichtsverfahren nötig. Ein Teil des Prozesses ist jedoch weiterhin funktionstüchtig.
Die USA haben sich aber rausgenommen. Es bestand die Hoffnung, dass sich das Verhältnis zur WTO unter Präsident Biden verbessern würde. Das geschah aber nicht.
Die Amerikaner beteiligen sich konstruktiv an den Verhandlungen. Angesichts geopolitischer Spannungen ist der Kontext aber schwierig. Man muss jedoch auch daran erinnern, welche Errungenschaft die WTO ist. Sie steht weiterhin im Zentrum der regelbasierten Handelsordnung. Mehr als 75 Prozent des Welthandels findet nach wie vor unter WTO-Regeln statt. Wenn man gegen die Macht des Stärkeren in der Handelspolitik ist, muss man auf die WTO setzen.
Das WTO-Treffen findet in Abu Dhabi statt, in einer Weltgegend, in der gerade Huthi-Milizen zeigen, wie verletzlich der Welthandel ist. Ist das eine düstere Symbolik?
Zunächst: Es ist bemerkenswert, wie resilient der Welthandel ist – trotz Pandemie, Krieg in Europa, Krieg im Nahen Osten, Rekordinflation, restriktiver Geldpolitik und geopolitischen Spannungen. Was uns bei der Erstellung der Handelsprognosen beschäftigt, ist derzeit die schwache Konjunktur in Europa. Die Krise im Roten Meer hilft da nicht. Ungefähr ein Drittel des Containerhandels zwischen Asien und Europa geht durch den Suezkanal. Solange die Situation aber nicht eskaliert und sich nicht auf die Energiemärkte durchschlägt, sind die Folgen noch moderat.
Die USA nehmen die Rolle der Beschützerin der Handelsrouten ein. Handelspolitisch ziehen sie sich aber zurück. Wie abhängig ist der Welthandel von den USA?
Die Handelspolitik ist multipolarer aufgestellt als früher. Was Schwierigkeiten, aber auch Chancen mit sich bringt. Probleme etwa punkto Versorgungssicherheit, Nachhaltigkeit, Verringerung der Armut können wir nur in einer Gemeinschaft lösen. Die WTO hat derzeit 164 Mitgliedsstaaten, und alle haben etwas zu sagen. Bei der letzten Ministerkonferenz haben sich all diese Länder inklusive Chinas, der USA, Russlands und der Ukraine auf Fortschritte im Regelwerk geeinigt.
Aber dennoch: Die USA setzen auf Handel mit befreundeten Staaten, die EU möchte gerade im Zusammenhang mit China die Risiken mindern, und China pocht schon lange auf Selbständigkeit. Gibt es noch einen Motor für die Weltwirtschaft?
Wir sehen noch keine Deglobalisierung, wir sehen aber tatsächlich erste Anzeichen für eine Fragmentierung des Welthandels, die sich an der Geopolitik orientiert. Am deutlichsten sieht man dies zwischen den USA und China. Seit 2018 ist der Handel zwischen diesen Ländern langsamer gewachsen als der Handel dieser Länder mit dem Rest der Welt.
Welche Auswirkungen hätte eine Fragmentierung?
Wir haben in einer Studie die Welt in zwei hypothetische geopolitische Blöcke anhand des Wahlverhaltens in der Uno-Vollversammlung geteilt. Seit der russischen Invasion der Ukraine wächst der Handel zwischen diesen hypothetischen Blöcken tatsächlich um 4 Prozent langsamer als der Handel innerhalb dieser Blöcke. Vorher hatte er sich parallel entwickelt. Was würde passieren, wenn die Weltwirtschaft wirklich in zwei Blöcke zerfiele? Die Weltwirtschaftsleistung würde durchschnittlich um 5 Prozent zurückgehen, besonders Entwicklungsländer wären davon betroffen. Es geht aber um mehr: Wir brauchen den Handel, um wichtige Herausforderungen zu bewältigen.
Zum Beispiel?
Während der Pandemie mussten wir feststellen, wie anfällig Lieferketten sind. In den Köpfen der Leute hat sich nun festgesetzt, dass Lieferketten oder der Handel das Problem seien. Handel ist aber ein wichtiger Teil der Lösung. Nehmen wir die Gesichtsmasken. Ohne Handel wäre die Versorgung zusammengebrochen.
Es ist doch auch vorteilhaft, wenn man Abhängigkeiten aus sicherheitspolitischen Überlegungen abbaut?
Es gibt sicher gewisse Abhängigkeiten im Welthandel, die zu gross sind. Die Antwort darauf ist aber nicht weniger Handel, sondern mehr diversifizierter Handel.
Der Trend geht aber mehr in Richtung Industriepolitik, was zu einem Subventionswettbewerb führen kann.
Industriepolitik und Subventionen sind schon seit längerem für China ein Thema, nun auch in den USA, in Europa und in anderen Ländern. Subventionen sollte man nicht grundsätzlich verteufeln, sie können beispielsweise für die Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet erneuerbarer Energien sinnvoll sein. Man muss sich aber fragen, ob dann ein Subventionswettlauf zu den Ergebnissen führt, die man sich wünscht. Das ist die ökonomische Überlegung. Die rechtliche Dimension ist zudem, dass wir bei der WTO Regeln haben, welche Subventionen zulässig sind. Hier ist es wichtig, dass sich die Länder daran halten oder dass sie die Regeln ändern. Es besteht die Gefahr, dass bei der Industriepolitik das regelbasierte Handelssystem zum Kollateralschaden anderer Politikziele wird.
Subventionen anderer Länder können doch auch hilfreich sein. Wenn Peking Elektrofahrzeuge subventionieren möchte, hilft das auch den Konsumenten in Europa und der Klimapolitik.
Das ist die ökonomische Diskussion. Diese Subventionen können natürlich auch Produzenten in anderen Ländern schaden. Aus Ökonomensicht ist das Thema nicht schwarz-weiss. Deshalb ist es auch wichtig, dass die Mitgliedsländer bei diesem Problem zu einer Lösung kommen. In der WTO gibt es deshalb auch Spannungen zwischen den Industrieländern und den Schwellenländern. Die Letzteren wollen Subventionen flexibler einsetzen, um die Industrialisierung voranzutreiben.
Beim Eintritt Chinas in die WTO war die Erwartung gross, dass sich das Land den westlichen Marktwirtschaften annähern würde. Jetzt nähern sich die Marktwirtschaften eher dem chinesischen Modell an.
Wie der chinesische Staatskapitalismus in das WTO-Regelwerk integriert werden soll, ist schon lange ein grosses Thema. Meine Hoffnung ist, dass es zu einer Möglichkeit kommt, konstruktiv darüber zu reden, weil jetzt nicht nur China, sondern auch die USA und Europa Industriepolitik betreiben.
Stehen neue Handelskonflikte vor der Tür? Die EU untersucht die chinesischen Subventionen für Elektroautos und Solarpanels. China reagierte mit einer Untersuchung der Importe von französischem Cognac.
Handelskonflikte gibt es immer. Das Wichtige ist, diese Konflikte innerhalb der WTO zu lösen. Ein weiteres Thema, das zu Spannungen führt, sind der CO2-Grenzausgleich und auch die Verordnung für entwaldungsfreie Lieferketten der EU. Länder des globalen Südens empfinden dies als grünen Protektionismus. Die EU ist bereit, dies im Rahmen der WTO zu diskutieren.
Ein anderer Konfliktherd könnte die Wiederwahl von Donald Trump sein. Er hat schon verkündet, die Zölle stark erhöhen zu wollen.
Grundsätzlich sind bei der WTO Zölle nicht in Stein gemeisselt. Wenn ein Mitgliedsstaat diese verändern will, ist das möglich. Was allerdings wichtig ist, ist, dass dies in kooperativer Art und Weise geschieht. Wenn es unilateral passiert, haben wir das Risiko von Handelskonflikten und auch das Risiko, dass das regelbasierte Handelssystem untergraben wird.
Man könnte sagen, dass das Kalkül der Trumpschen Handelskriege von 2018 aufgegangen ist. China ist nicht mehr der grösste Handelspartner der USA. Unter Präsident Biden hat sich die Handelspolitik nicht sehr verändert.
Ich weiss nicht, ob das Kalkül aufgegangen ist. Eine Fragmentierung des Welthandels hat aber tatsächlich stattgefunden. Das Niveau des Warenhandels ist jedoch immer noch hoch. Teilweise wurde der Handel nur umgeleitet. Chinesische Waren kommen jetzt vermehrt über Vietnam und Mexiko in die USA.
Die Abhängigkeit ist also ähnlich hoch geblieben?
Wenn man Risiken reduzieren will, muss man auch indirekte Abhängigkeiten abbauen. Die Diskussion stört mich aber: Es heisst, wir müssten unabhängig sein von anderen. Dabei geht vergessen, dass eine gegenseitige Abhängigkeit die Idee der europäischen Integration ist. Man sollte dieses Konzept nicht allzu früh aus dem Fenster werfen.
Zeigt nicht der Fall Russland, dass dieses Konzept Grenzen hat?
Ich bin nicht so naiv, zu glauben, dass mit mehr Handel alles in Ordnung ist. Es gibt berechtigte Sicherheitsbedenken. Es ist aber schon bemerkenswert, wie sich die Vorstellung zum Welthandel in kurzer Zeit um 180 Grad gedreht hat.
War man früher nicht allzu naiv gegenüber der Globalisierung? Es hiess: Solange es ökonomisch effizient ist, ist alles gut.
Ich habe das Gefühl, die Menschen haben heute die Erwartung, dass man sie vor der Welt schützt. Es ist eine Art Vollkaskomentalität. Man will so tun, als ob eine Pandemie oder ein Krieg in Europa einen nicht betreffen.
Es gibt auch die Vorstellung, dass wir bereits in einem zweiten kalten Krieg sind. Der Unterschied zum ersten ist die engere wirtschaftliche Verflechtung. Einerseits bietet dies eine gewisse Abschreckung, andererseits ist der Schaden grösser, wenn etwas passiert.
Ein weiterer Unterschied ist: Es gibt viele Länder, die weder auf der einen noch auf der anderen Seite sind. Und diese suchen weiterhin ihre Chancen im Handel. Wichtiger finde ich, dass viele globale Probleme Lösungen erfordern, die auch den Handel einbeziehen. Ein Beispiel ist die Klimapolitik.
Dennoch muss sich ein Land wie die Schweiz strategisch auf die Möglichkeit eines neuen kalten Krieges einstellen.
Die Schweiz als kleine, offene Volkswirtschaft braucht ein regelbasiertes und kein machtbasiertes Handelssystem. Die Schweiz ist gut beraten, das zu tun, was sie ohnehin tut: die WTO zu unterstützen. Zudem sehe ich keine Deglobalisierung, sondern eine Reglobalisierung. Das heisst auch, dass der Austausch mit vielen verschiedenen Handelspartnern anzustreben ist.
Während des Kalten Krieges galt das GATT-Abkommen, der Vorläufer der WTO, auch nur für einen Teil der Welt. Kann man sich eine Aufspaltung der WTO vorstellen?
Ich hoffe nicht, dass dies auf der Tagesordnung steht. Die Mitglieder der WTO sind tatsächlich diverser geworden, was Schwierigkeiten mit sich bringt. Jedes Land hat eine Stimme. Ganz egal, wie klein man ist, ganz egal, woher man kommt, man kann letztlich grosse Probleme machen. Ich mag das Konsensprinzip auch in der Schweiz. In der WTO ist es eben noch ein bisschen komplexer.
Wie sähe ein Erfolg bei der Ministerkonferenz aus?
Über die Reform des Streitschlichtungsverfahrens haben wir schon gesprochen. Ein anderes wichtiges Thema ist E-Commerce. Es gibt einen weltweiten Aufschub für Zölle bei elektronischen Transmissionen. Das heisst, dass bei E-Books, Filmen, die man herunterlädt, und anderem keine Zölle anfallen. Dieses Moratorium muss immer wieder verlängert werden. In der letzten Ministerkonferenz gab es einen Durchbruch bei den Verhandlungen zu den Fischereisubventionen. Hier will man noch einen Schritt weitergehen. Zudem werden plurilaterale Abkommen zu Erleichterungen bei internationalen Investitionen und im Dienstleistungsbereich verhandelt. Die Themen sind bedeutend, aber auch der Prozess an sich. Viele sehen in plurilateralen Abkommen, die nicht die Zustimmung aller Mitglieder benötigen, die Zukunft der WTO.