Schon vor dem Beginn der Invasion der Ukraine wurde die kritische russische Intelligenzia vom Putin-Regime drangsaliert, seit dem 24. Februar 2022 steht sie unter Schock.
Sergei Lebedew gehört zu den wichtigsten russischen Gegenwartsautoren. Seit 2018 lebt er aus privaten Gründen in Potsdam, er ist also kein politischer Emigrant. Immer wieder mahnt er eine russische Vergangenheitsbewältigung ein. Er unterstreicht, dass sich in Russland keine offene Gesellschaft entwickeln könne, solange es keine strafrechtliche Aufarbeitung des sowjetischen und des putinistischen Unrechtsregimes gebe.
Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine hat sich die Situation in Russland noch einmal verschärft. Lebedew konstatiert zu Recht, dass nicht nur die staatliche Repressionsmaschine die russische Zivilgesellschaft an einem Protest gehindert habe. Die Menschen seien für einen solchen Widerstand nicht bereit gewesen, weil man auch den Tschetschenienkrieg nicht angemessen bewältigt habe. Was man heute in der Ukraine beobachte, habe es bereits in der jüngsten Vergangenheit gegeben: Plünderungen, Massaker, Zerstörung der zivilen Infrastruktur.
Ein Stalindenkmal beginnt zu sprechen
Um der sprachlosen russischen Gesellschaft eine Stimme zu geben, hat Lebedew nun einen lesenswerten Sammelband mit dem programmatischen Titel «Nein!» veröffentlicht. 25 Autorinnen und Autoren geben einen literarischen Bericht aus dem beschädigten Leben. Die meisten von ihnen leben mittlerweile im Ausland, einige publizieren in dem Band unter Pseudonym.
Die präsentierten Texte gehören zu verschiedenen Genres und reichen von expressiver Lyrik über Kurzprosa bis zu kritischen Essays. Dabei treten auch phantastische Protagonisten auf: Ein Stalindenkmal beginnt zu sprechen, ein totes Opfer von Strassengewalt kehrt nach Hause zurück, eine Braut legt sich zu ihrem gefallenen Mann in den Sarg. In solchen Motiven zeigt sich, dass die russische Gesellschaft nicht nur ihre politische Handlungsfähigkeit verloren hat. Die Menschen gleichen einem nüchternen Beobachter, der seinen Weg durch eine betrunkene Wirklichkeit sucht.
Aber auch die umgekehrte Perspektive ist in dem Band präsent. Mittlerweile ist der russische Alltag so phantastisch geworden, dass es gar keine dichterische Einbildungskraft mehr braucht. Jelena Kostjutschenko nennt ihren Beitrag «Found Poetry». Sie bringt Kleinanzeigen aus den russischen Social Media in eine poetische Form, indem sie einen Zeilensprung einfügt: «Grabmal für Soldaten der militärischen Spezialoperation / Im Lieferumfang enthalten: / Stele in der Grösse 120×50×8 cm / sowie / Sockel 60×20×15 cm / 10% Rabatt bei Bestellung zusammen mit einem Grabstein».
Am stärksten sind jene Texte, die in aller Kürze die Pathogenese der russischen Gesellschaft beschreiben. Lisa Alexandrowa-Sorina stellt einen Kriegsheimkehrer ins Zentrum ihrer Erzählung. Der Soldat ist tief traumatisiert. Als ersten Tod in der Ukraine sieht er eine Mutter mit ihrem Kind, die von einer Mine zerrissen wurde. Das Mädchen hielt auch nach der Explosion noch die Hand der Mutter, von der sonst nichts übrig geblieben war. Der Soldat kehrt zu seiner Familie auf einen Bauernhof nach Russland zurück. An einem Familienfest ist er unfähig, von seinen Erlebnissen zu berichten. Er wirft aber eine mitgebrachte Handgranate in die Jauchegrube und beginnt, unbändig zu lachen. Der Krieg hat nicht nur die Vorstellungen über die menschliche Moral verschoben, sondern auch die Grenze zwischen tödlichem Ernst und irrer Komik.
Wichtiges Zeichen
Xenia Bukscha stellt in sechzehn Kürzestbiografien die alltägliche Gewalt in russischen Familien, Kindergärten und Schulen an den Anfang tragischer Lebensschicksale. Die Kinder werden erniedrigt, geschlagen, vergewaltigt. Ihr Erwachsenenleben wird mit einem Satz abgehandelt: «Dann wuchs er auf und wurde Militärstaatsanwalt.» «Aber dann ist D. an Drogen krepiert.» Am Ende dieses schockierenden Reigens steht die verstümmelte Reaktion eines Mannes, der gleichzeitig Täter und Opfer ist, auf das Massaker, das die russische Armee in Butscha verübt hat: «Er ging auf die Toilette und betrachtete lange sein Gesicht, konnte aber nichts erkennen.»
Der einzige problematische Beitrag in dem Band kommt von Denis Larionow, der seinen Text dafür missbraucht, über Schriftstellerkollegen zu lästern. So kritisiert er Leonid Jusefowitsch für seine historischen Romane und fordert ihn auf, aktuelle Themen zu beschreiben. Larionow entblödet sich auch nicht, die Nobelpreiskandidatin Ljudmila Ulitzkaja auf eine Stufe mit dem rechtsradikalen Putin-Fan Sachar Prilepin zu stellen, weil sie beide angeblich denselben «durchschnittlich postsowjetischen Schreibstil» pflegten.
Trotz diesem Ärgernis muss der Band aber als wichtiges Zeichen der Überwindung der russischen Sprachlosigkeit angesichts des Angriffskriegs in der Ukraine gewertet werden. Licht am Horizont wird es allerdings erst geben, wenn solche Texte auch dereinst in Russland erscheinen können.
Sergej Lebedew (Hg.): Nein! Stimmen aus Russland gegen den Krieg. Aus dem Russischen von Andreas Weihe, Franziska Zwerg, Christiane Körner, Maria Rajer, Nataliya Bakshi und Ruth Altenhofer. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2025. 384 S., Fr. 39.90.