Markante Zunahme der Gewalttaten löst eine politische Debatte um Kriminalität im Asylbereich aus.
Es ist kurz vor 21 Uhr, als es an einem Donnerstagabend Mitte März zu einem Messerangriff in der Zürcher Bäckeranlage kommt. Bei einem Streit zwischen zwei Männern zückt ein 16-jähriger Afghane eine Stichwaffe und verletzt damit seinen Kontrahenten, einen 39-jährigen Türken.
Anderer Ort, ähnliches Bild: Spätabends im Dezember 2023 sticht ein 18-jähriger Tunesier im Zürcher Kreis 4 auf einen 27-jährigen Mann ein. Das Opfer muss mit schweren Verletzungen ins Spital gebracht und dort notoperiert werden.
Zwei unterschiedliche Fälle, dieselbe Tatwaffe: ein Messer. Stichwaffen sind zum Symbol einer besorgniserregenden Entwicklung im Kanton Zürich geworden. Im Schnitt vergeht keine Woche ohne blutige Auseinandersetzungen. Vor allem hat die Zahl der schweren Gewalttaten markant zugenommen.
Ein Fünftel der Beschuldigten sind jugendliche Ausländer
Das zeigt die Kriminalstatistik für das Jahr 2023, die der Kanton am Montag vorgestellt hat. Generell wurden im letzten Jahr demnach mehr schwere Gewaltdelikte wie schwere Körperverletzungen und versuchte Tötungen registriert.
Erstmals seit 2013 wieder mehr als 100 000 Straftaten im Kanton Zürich
fbi. Die Kriminalität im Kanton Zürich ist im vergangenen Jahr angestiegen. Die Zahl der Straftaten lag zum ersten Mal seit zehn Jahren wieder über 100 000. Gegenüber dem Vorjahr nahm die Zahl der Straftaten um 8,7 Prozent zu – von knapp 96 000 auf 104 000 registrierte Delikte. In einer Mitteilung schreibt die Kantonspolizei Zürich, der Migrationsdruck mit seinen Auswirkungen im Asylbereich und die 24-Stunden-Gesellschaft stellten die Einsatzkräfte ebenso vor Herausforderungen wie der zunehmende Kriminaltourismus.
Laut der Kantonspolizei gehen vor allem Delikte wie Laden-, Taschen- und Fahrzeugdiebstähle sowie Einbrüche auf das Konto von Tätern aus dem Asylbereich. Man habe darauf reagiert: Im Rahmen einer auf dem ganzen Kantonsgebiet koordinierten Aktion habe man rund 400 Festnahmen durchgeführt und rund 50 mehrfach straffällig gewordene Personen identifiziert. Diese waren für über 300 Straftaten verantwortlich.
Eine starke Zunahme gab es in den letzten Jahren vor allem bei Gewaltdelikten, bei denen Schneid- und Stichwaffen im Spiel waren. Im Vergleich zum Jahr 2019 hat sich die Zahl der Messerattacken gar verdoppelt – von 50 auf 105 Fälle. Erfasst sind dabei Tötungsdelikte, versuchte Tötungen sowie einfache und schwere Körperverletzungen. Etwas weniger als die Hälfte der Delikte wurden in der Stadt Zürich registriert, der Rest im übrigen Kantonsgebiet.
Und noch etwas stellen die Behörden fest: Bei den Tatverdächtigen handelt es sich häufig um ausländische Männer. 71 der 105 registrierten Gewalttaten mit Stichwaffen gehen auf ihr Konto, ein Fünftel der Beschuldigten sind ausländische Jugendliche. Zum Vergleich: Im Jahr davor machten minderjährige Ausländer erst zehn Prozent der Beschuldigten aus.
Der Zürcher Sicherheitsdirektor Mario Fehr führte bei der Vorstellung der Kriminalstatistik eine Rangliste auf. Demnach handelte es sich bei den Tatverdächtigen vor allem um Eritreer, Afghanen, Syrer sowie Marokkaner und Algerier. Fehr nannte noch einen weiteren Aspekt: Oft seien es Auseinandersetzungen unter Landsleuten, bei denen eine Waffe gezückt werde. Vielfach sind deshalb nicht nur die Täter, sondern auch die Opfer Ausländer.
Waffen einfach verfügbar
Erklärungsbedürftig ist insbesondere, weshalb derart viele Jugendliche unter den Tatverdächtigen sind. Denn: Es werden auch mehr minderjährige Schweizer verzeichnet, die zur Stichwaffe greifen.
Klar ist: Die Verfügbarkeit von Stichwaffen ist hoch. Zwar handelt es sich nur um eine kleine Minderheit, die tatsächlich zusticht, doch auffällig ist, dass viele junge Männer eine Waffe auf sich tragen. Und so kann es rasch gefährlich werden, gerade dann, wenn auch noch Alkohol und andere Substanzen im Spiel sind. Manchmal reicht ein falsches Wort, und aus einer Lappalie wird Ernst.
Das stellen nicht nur die Polizei- und Sicherheitsbehörden fest, sondern auch Fachleute aus der Jugendarbeit. Eine Umfrage der Stiftung für Kinder- und Jugendförderung (Mojuga) unter 170 Jugendlichen ergab beispielsweise, dass 65 Prozent der Teenager im Alltag regelmässig ein Messer auf sich tragen. Aber nicht aus einem konkreten Bedrohungsgefühl heraus oder weil sie früher schon einmal angegriffen worden wären.
Jugendarbeiter Marco Bezjak erklärte im Gespräch mit der NZZ, ein Messer gebe den jungen Männern ein Gefühl von Stärke, Durchsetzungskraft und Sicherheit. Unter den Jugendlichen erzähle man sich zudem, dass man ohne Waffe selbst abgestochen werden könnte und andere auch Messer dabei hätten.
Die Kantonspolizei hat im vergangenen Jahr bei Kontrollen fast 1500 Hieb- und Stichwaffen sichergestellt. Die Einsatzkräfte setzen auf Patrouillen und Kontrollen an neuralgischen Punkten wie den Ausgehmeilen an der Zürcher Langstrasse oder am Seebecken. Verstärkt worden ist aber auch die Zusammenarbeit mit den Schulen. Hinzu kommen Referate bei Jugendtreffs und Präventionskampagnen.
SP übt scharfe Kritik an ihrem ehemaligen Parteikollegen
Im Fall des afghanischen Messerstechers von der Bäckeranlage haben die Zürcher Behörden nach der Tat beim Staatssekretariat für Migration den Antrag gestellt, dem Jugendlichen den Aufenthaltsstatus zu entziehen. Etwas, was Sicherheitsdirektor Fehr bei jedem Einsatz von Messern machen will.
Entsprechend verbindet Fehr die jüngsten Befunde zur Kriminalstatistik auch mit einer politischen Forderung. Er sagt: «Wir dürfen uns nicht um die politischen Debatten drücken. Wir müssen nicht nur die Menschen integrieren, die hier bleiben. Wir müssen auch Rückführungen konsequent vollziehen.» Da sei vor allem der Bund gefordert.
Die politische Debatte ist bereits im Gang: Die SP kritisiert ihren früheren Parteikollegen in einer Mitteilung scharf. Laut Priska Seiler Graf, Co-Präsidentin der SP Kanton Zürich, wird das Bestehen eines direkten Zusammenhangs zwischen Nationalität, Aufenthaltsstatus und Kriminalität suggeriert. «Im Zusammenhang mit Straftaten ausschliesslich auf die Nationalität zu verweisen, ist stark verkürzt, irreführend und pauschalisierend», hält sie fest. Für eine nachhaltige Bekämpfung der Kriminalität brauche es eine umfassende Armutsbekämpfung sowie die Integration durch Arbeitsmöglichkeiten und die Förderung der Jugendarbeit.
Auch FDP und SVP meldeten sich nach Bekanntgabe der Kriminalstatistik mit Mitteilungen zu Wort. Während die SVP die Ursache der steigenden Kriminalität in einer verfehlten Asylpolitik sieht, identifizieren die Freisinnigen zwei Handlungsfelder: neben der Asylpolitik die Jugendkriminalität. «Sicherheit ist auch im Kanton Zürich keine Selbstverständlichkeit und die Polizei benötigt politische Unterstützung», schreibt die FDP.
Für die Grünliberalen braucht es eine gute Koordination zwischen Präventions- und Integrationsarbeit, um insbesondere der Jugend-, Gewalt- und Ausländerkriminalität entgegenzuwirken. Wo Prävention und Integration nicht wirkten, brauche es bei kriminellen Handlungen entschiedenes Eingreifen der Sicherheitskräfte.
Die Debatte wird im Kantonsparlament ihre Fortsetzung finden.