Unsere innere Lebensuhr gibt das wahre biologische Alter an. Wie der Mann tickt, der diese Uhr entdeckt hat, und was ihn antrieb.
Manche fühlen sich jünger, als es im Pass steht. Oder älter. Ob nun der Pass oder das Gefühl recht hat und wie lange wir schätzungsweise noch leben werden, das können spezielle innere Uhren anzeigen. Ausgetüftelt hat sie der Mathematiker und Biostatistiker Steve Horvath.
«Schon als Teenager fand ich das Leben viel zu kurz für all meine Träume und Pläne», sagt er gleich beim ersten unserer Gespräche. «Ich wollte zum Mars fliegen und Mathematik, Physik und Chemie studieren. Mir war klar, ich muss das Altern erforschen und etwas entwickeln, um die gesunde Lebensspanne zu verlängern.» Er erzählt entspannt und sehr freundlich, jederzeit voll konzentriert. Selbst eine Corona-Infektion kann ihn nicht bremsen.
Er, sein Zwillingsbruder Markus und ihr bester Freund Jörg gründeten daher nach dem Abitur ihr Gilgamesch-Projekt – in Anlehnung an das Epos über den sumerischen König Gilgamesch, der versuchte, dem Tod zu entrinnen. Die drei versprachen sich, allein oder gemeinsam dem Alter mit Wissenschaft ein Schnippchen zu schlagen. Damals hiess der gebürtige Deutsche noch Stefan, nach mehr als dreissig Jahren in den USA kennt man ihn nur noch als Steve.
Es begann mit dem Gilgamesch-Projekt dreier Abiturienten
Direkt nach der Schule sah es allerdings nicht danach aus, dass der heute 56-Jährige einen bedeutenden Beitrag zur Altersforschung leisten würde. «In der Schule hasste ich Biologie, das war mir zu viel Auswendiglernen. Ich liebte dagegen die reine, klare Logik der Mathematik.» Horvath schmunzelt. Also studierte er theoretische Mathematik. Was auf den ersten Blick etwas abwegig erscheint, wenn einer etwas erfinden will, um lange gesund zu leben. Aber es erwies sich als schlauer Schachzug.
Der Weg war allerdings kurvig und nicht frei von Sackgassen. «Erst 2008, ich war schon mehr als zwanzig Jahre in den USA und hatte endlich eine feste Professorenstelle an der Universität in Los Angeles, wollte ich mich nun ernsthaft und frei von Jobsorgen unserem Gilgamesch-Projekt widmen. Ehrlich gesagt, ich hatte keine Ahnung von Altersforschung. Und immer noch nicht von Molekularbiologie. Aber immerhin von Biostatistik.»
Der theoretische Mathematiker wird zum Molekularbiologen
Zwei frustrierende Jahre lang suchte Horvath nach statistischen Korrelationen zwischen der Aktivität von Genen und Alterskrankheiten. Erfolglos. Die Wende brachte erst die Anfrage eines Kollegen vom Nachbarlabor. Der bat um Hilfe bei den Statistiken in einem Projekt über Biomarker für Homosexualität. Biostatistik – das war vertrautes Terrain für den Mathematiker Horvath.
Die beiden fanden zwar nichts heraus über biologische Grundlagen der Homosexualität. Doch Horvath hatte einen Geistesblitz: Er erkannte, dass sich an der Verpackung des Erbguts das biologische Alter einer Person ablesen lässt.
Im Laufe des Lebens erfährt unser DNA-Faden, in dem alle Erbinformation gespeichert ist, zahlreiche Veränderungen in seiner Verpackung. Es werden kleine Anhängsel angeheftet, andere entfernt. Das bezeichnen Fachleute als epigenetische Veränderungen. Sie dienen meist der Regulierung der Genaktivität.
Solche epigenetischen Veränderungen werden durch Rauchen verursacht, durch Stress, Bewegungsmangel oder viel Sport, Übergewicht oder Mangelernährung, aber auch Unfälle, Infektionen und andere Erkrankungen. Und diese Veränderungen lassen sich messen. Horvath entwickelte basierend auf diesen Mustern die erste epigenetische Uhr. Die Uhr zeigt an, ob die Zellen einer Person älter oder jünger sind als die Lebensjahre, die diese laut der Geburtsurkunde schon durchlebt hat.
Eine Uhr kann das ungefähre Lebensende vorhersagen
Heutzutage kennt man mehrere epigenetische Uhren. Manche erfassen das Alter einzelner Organe. Eine kann sogar das voraussichtliche Lebensende vorhersagen – allerdings mit einer Ungenauigkeit von plus/minus fünf Jahren. «Ja, das tönt gruselig», gibt Steve Horvath zu. «Aber solch eine Information kann ein Schubs sein, etwas im Leben zu verändern.»
Die Uhren sind mittlerweile auch das geworden, was Horvath ursprünglich gesucht hat: wichtige Biomarker für Altersprozesse. Mithilfe der Uhren werden nun in der Longevity-Forschung die Effekte einer bestimmten Substanz oder auch des Lebensstils gemessen. So hoffen Forscherinnen und Wissenschafter, in klinischen Studien herauszufinden, ob ein Cocktail aus Wachstumshormonen oder gängige Nahrungsergänzungsmittel die Uhr langsamer ticken lassen oder gar ein bisschen zurückdrehen. Oder welche Lebensmittel einen Einfluss auf Alterungsprozesse in Zellen haben.
Was heute ein nicht mehr wegzudenkendes Instrument in der Altersforschung ist, das wurde am Anfang belächelt. Niemand von den etablierten Langlebigkeitsexperten glaubte dem Aussenseiter Horvath. Monatelang bot er seine Ergebnisse wie saures Bier bei diversen Fachzeitschriften an. «Hirngespinst», «zu schön, um wahr zu sein», «totaler Schrott», so lauteten die Absagen. Erst 2011 konnte er seine epigenetische Uhr in der Fachzeitschrift «Plos» präsentieren.
Ihm selber hat seine Entdeckung einen ordentlichen Schub gegeben, um seinen Lebensstil zu ändern. «Ich ignorierte früher viele Empfehlungen, trieb kaum Sport, ass jeden Tag 200 Gramm Schokolade.» Dann nahm Steve an Studien zur Erforschung von Alterungsprozessen teil. «An einer Zwillingsstudie war auch mein Bruder beteiligt», erzählt er. «Zu Beginn hat sich gezeigt, dass er biologisch jünger war als ich. Das war eigentlich nicht überraschend.» Aber es wurmte Steve.
Jetzt isst er gar keine Süssigkeiten mehr und nur noch sehr wenig Kohlenhydrate. Und achtet generell auf die Kalorienmenge. «Als gebürtiger Deutscher ass ich früher recht viel Brot, und natürlich mag ich Nudeln. Heute esse ich vor allem Gemüse, allerhöchstens noch zwei Scheiben Brot und gelegentlich eine halbe Portion Nudeln.» Sein Frühstück besteht aus gedämpftem Brokkoli und Dosenfisch.
Jeden Morgen trainiert er auf dem Laufband. «Ich habe mich zum Gesundheitsfreak entwickelt, gebe pro Jahr Tausende Dollar für medizinische Gesundheitschecks aus.» Man sieht ihm seinen Lebensstil an, das Gesicht ist schmal, das Hemd sitzt locker. «Meine epigenetische Uhr wurde zurückgedreht, ich bin jetzt sogar einige Monate jünger als mein Bruder», verkündet Steve stolz und grinst dabei breit.
Noch gibt es keinen Cocktail, der die Uhr zurückdreht
Der Forscher hält es allerdings für unnötig, dass jetzt jede und jeder einen kommerziellen Test zur Abfrage der eigenen epigenetischen Uhr durchführt. Es sei sicher beruhigend, zu wissen, dass man jünger sei, als es auf der Geburtsurkunde stehe. Aber sollte das Gegenteil der Fall sein, so könne einem die Forschung derzeit keine spezielle Substanz oder Mixtur anbieten, um die Uhr dauerhaft zurückzudrehen oder diese wenigstens langsamer laufen zu lassen.
Derzeit gibt es «nur» die altbekannten Empfehlungen für ein gesundes Leben: nicht rauchen, abwechslungsreich und nicht zu üppig essen, ausreichende und regelmässige Bewegung sowie soziale und geistige Aktivitäten. Die Langlebigkeitsexperten gehen davon aus, dass dies nicht nur dabei hilft, weniger krank zu werden, sondern auch gemächlicher und gesünder zu altern.
Horvath warnt sogar davor, den Versprechungen von Unternehmen zu trauen, die oft zusammen mit einem Test für das biologische Alter auch zahlreiche Produkte anbieten, um jünger zu werden. Manche davon werden zwar bereits in ersten klinischen Studien erprobt. Aber: «Wir haben derzeit keine wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse, dass irgendetwas davon, allein oder in Kombination, wirklich jünger macht», betont der Uhrenerfinder.
Zudem hätten manche der in den kleinen Studien erprobten Substanzen nicht zu unterschätzende Nebenwirkungen. Zum Beispiel kann das vielgepriesene Diabetesmittel Metformin, länger eingenommen, den Muskelabbau fördern. Und genau das will man auf keinen Fall und schon gar nicht im Alter.
Noch ist das Gilgamesch-Projekt unvollendet. Steve und sein Zwillingsbruder arbeiten mittlerweile beide in Cambridge in Grossbritannien bei der Firma Altos, die sich die Verjüngung von Organen zum Ziel gesetzt hat. Sein Freund Jörg, mit dem Steve sich nach wie vor austauscht, erforscht künstliche Intelligenz an der Universität Bonn. «Vielleicht schaffen wir es ja noch, einen Cocktail für ein langes, gesundes Leben zu entwickeln», meint Steve und lächelt verschmitzt. «Ewig leben muss ja nicht sein, aber neunzig Jahre alt werden und dabei weitgehend gesund sein, das ist schon mein Ziel.» Allzu lange sollte das Mittel nicht mehr auf sich warten lassen.