Während sich die ganze Anlegerwelt derzeit um das Thema künstliche Intelligenz dreht, schneidet der europäische Aktienmarkt bereits seit einem halben Jahr besser ab als die US-Leitindizes. Zu kümmern scheint das niemanden.
Das Geschehen an den Börsen fasziniert immer wieder von Neuem. Während derzeit der ganze Fokus der Anleger und Experten auf dem Thema künstliche Intelligenz und ihren Profiteuren liegt, die in den USA als «glorreiche Sieben» berühmt geworden sind, fristen europäische Valoren ein Schattendasein. «Es gab erstaunlich wenige Fragen zu Japan und fast keine zu Europa», fasst UBS-Aktienstratege Andrew Garthwaite die Eindrücke seiner Roadshow in den Vereinigten Staaten zusammen.
Das ist umso erstaunlicher, da just diese beiden Märkte seit Jahresbeginn und auch über sechs Monate die amerikanischen Leitbarometer schlagen – und das nicht nur in Lokalwährung, sondern auch in Franken. Während der japanische Nikkei 225 dank seines Übertreffens des bisherigen Rekordhochs von Ende 1989 zumindest ein wenig Interesse weckt, sind europäische Aktien bisher kaum ein Thema.
Der Euro Stoxx 50 schlägt den Nasdaq 100
Und das, obwohl der Euro Stoxx 50 – in dem der Highflyer Novo Nordisk nicht einmal vertreten ist – seit Anfang Jahr rund 11% zugelegt hat, während der S&P 500 als bester amerikanischer Index auf einen Zuwachs von 8,3% kommt. Über sechs Monate sind es 17,2% für den Euro Stoxx 50 und 16,8% für den Nasdaq 100, der über diesen Zeitraum den S&P 500 geschlagen hat.
Gewiss, auch in Europa hat es vereinzelte Profiteure des KI-Booms, allen voran der Halbleiterausrüster ASML. Mit einem Plus von 29% seit Anfang Jahr und einem Gewicht von rund 10% hat er den Euro Stoxx 50 vorangetrieben, war damit aber nur zweitbester Wert. Geschlagen wurden die Niederländer von der italienischen Bank Unicredit mit einem Gewinn von mehr als 30%.
Überhaupt machen Finanzwerte aus der Peripherie eine gute Figur. Zu Unicredit gesellen sich in den Top 10 ferner die spanische BBVA und die ebenfalls italienische Intesa Sanpaolo. Nach Jahren der Krise erholen sich diese Namen schon seit einiger Zeit, wie die regelmässige Momentumübersicht von The Market zeigt.
Geht es nach Stuart Mitchell, einem langjährigen Fondsmanager für europäische Aktien, haben gerade die Banken noch weiteres Potenzial. Er traut Intesa und anderen Instituten zu, in einigen Jahren eine Eigenkapitalrendite von 16 bis 18% zu erwirtschaften, was eine Prämie auf den Buchwert von 50% rechtfertigen würde. Derzeit handelt Intesa zum Buchwert.
Sorgen um notleidende Kredite macht er sich nicht. «Erstens ist der Hypothekenmarkt deutlich kleiner als in den Jahren 2007/08, zweitens sollten die Kreditkartenschulden bei den grossen Banken überschaubar sein, und drittens sind zumindest die Namen, die wir halten, kaum im Markt für US-Gewerbeimmobilien aktiv, wo Kreditausfälle drohen», sagt er im Gespräch mit The Market.
US-Aktien sind Konsens
Doch es sind nicht nur die Banken, die günstig sind, sondern auch die meisten anderen europäischen Werte. «Viele Namen sind bei vergleichbarer Qualität nur rund halb so teuer wie ihre US-Pendants», gibt Mitchell zu bedenken. Er geht davon aus, dass allein der massive Bewertungsdiscount das Interesse an europäischen Valoren wecken kann.
«Der Bewertungsabschlag europäischer Industriewerte macht überhaupt keinen Sinn», schreibt auch Marko Papic von Clocktower Group, einem Spezialisten für geopolitische Analysen. Er verweist dabei auf den Überfluss an Flüssiggas, den Europa in den nächsten zwei Jahren erleben wird und der die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Exportsektors dank kollabierender Energiepreise deutlich verbessern wird.
«Konsens ist, in den USA investiert zu sein», fasst UBS-Stratege Garthwaite die derzeitige Anlegerstimmung zusammen. Er warnt jedoch, dass die US-Börse dem Weltaktienmarkt hinterherhinken dürfte, sollten sich die globalen Einkaufsmanagerindizes deutlich erholen. Die Börsen scheinen diese Erholung allerdings bereits seit längerem zu spielen, weil genau das schon seit einiger Zeit der Fall ist.