Eines der unappetitlichsten Kapitel der Nato-Geschichte hat geendet. Schweden wird Mitglied, nach der Türkei fügt sich endlich auch Ungarn. Die Allianz hätte Wichtigeres zu tun, als sich mit internen Quertreibern herumzuschlagen.
In wenigen Tagen wird vor dem Nato-Hauptquartier in Brüssel die blau-gelbe Flagge eines neuen Mitgliedlandes wehen. Gemeint ist nicht die Ukraine, deren Schutz vor Russlands Aggressionen längerfristig wohl nur durch die Aufnahme in das westliche Verteidigungsbündnis garantiert werden kann. Aber zumindest gelangt nun Schweden unter diesen Schutzschirm, als 32. Mitgliedstaat.
Wie Finnland hatte Schweden nach der russischen Grossinvasion in der Ukraine seine traditionelle Politik der Neutralität aufgegeben und um einen Beitritt ersucht. Doch von der Zustimmung der Nato-Führung bis zur Aufnahme verstrichen ganze 20 Monate. Das ist mehr als nur eine bürokratische Panne, das spiegelt ein empörendes Vorgehen.
Schuld daran war zuletzt Ungarn, das länger noch als die Türkei den Beitritt blockierte und erst an diesem Montag das Parlament darüber abstimmen liess. Anders als die Türkei hat die Regierung in Budapest nie plausible Gründe für die Blockade vorgelegt. Tatsachenwidrig behauptete ein enger Mitarbeiter des Regierungschefs Viktor Orban sogar, der Nato-Beitritt sei für Schweden gar keine Priorität. Im übrigen Europa wird diese Quertreiberei als das wahrgenommen, was sie vermutlich war: ein Erpressungsversuch.
Ungarn – vom Vorreiter zur Schwachstelle
Glücklicherweise hat Orban aus seinem unwürdigen Verhalten keinen Profit gezogen. Trotzdem steht Ungarn, das 1989 noch eine Vorreiterrolle beim Sturz der kommunistischen Diktaturen in Osteuropa übernommen hatte, heute als Schwachstelle der westlichen Allianz dar. Nicht nur hat sich Orban mit seiner Vision eines «illiberalen» Staates von Grundwerten der Nato verabschiedet. Er verbreitet auch ungefilterte russische Propaganda, lehnt Militärhilfe an die benachbarte Ukraine ab und zeigt sich unsolidarisch, indem er nie einen Truppenbeitrag zu den Nato-Verbänden in den baltischen «Frontstaaten» geleistet hat.
Mit einer Mitgliedschaft ist ein solches Verhalten schlecht vereinbar. Ein Hinauswurf droht Ungarn zwar nicht, weil dies in den Statuten der Nato nicht vorgesehen ist. Aber das Land sollte sich des Risikos bewusst werden, dass es im Gegenzug nur mit beschränkter Solidarität rechnen darf, sollte es einmal selber in einen Ernstfall geraten.
Vorerst wird die Nato den Ärger hinunterschlucken und den Blick nach vorne richten. Der Beitritt Schwedens ist aus strategischer Sicht günstig: Das Land grenzt nicht unmittelbar an Russland, aber ermöglicht wegen seiner geografischen Lage, die Nordostflanke des Bündnisgebietes besser zu verteidigen. Die Ostsee ist nun grossmehrheitlich von Nato-Staaten umgeben. Über Schweden könnten im Kriegsfall Nachschublinien ins Baltikum und nach Finnland führen. Zudem verfügt das Land über eine der grössten Luftwaffen Europas und eine bedeutende Rüstungsindustrie.
Dass Schweden vom Lager der Neutralen in jenes der Nato wechselt, bedeutet eine geostrategische Niederlage Moskaus. Der Kreml hat sich dies allerdings selber zuzuschreiben, weil er mit seinen ständigen Drohungen gegen die Länder in seiner Nachbarschaft eine logische Reaktion auslöst.
Dem Zwei-Prozent-Ziel nahe, aber viel zu spät
Trotzdem handelt es sich für die Nato nur um einen Erfolg auf einem Nebenschauplatz. Im Vordergrund steht die Sorge, dass das Bündnis als Ganzes für einen Konflikt mit Russland unzureichend gerüstet ist. Obwohl westliche Verteidigungspolitiker inzwischen offen vom Szenario eines russischen Angriffs in drei bis acht Jahren sprechen, handeln die wenigsten Regierungen danach. Viele ruhen sich lieber auf vermeintlichen Lorbeeren aus. So hat der Nato-Generalsekretär unlängst verkündet, dass die europäischen Nato-Mitglieder zusammen in diesem Jahr erstmals zwei Prozent ihres Bruttoinlandprodukts für Verteidigung ausgeben werden. Diese schon vor zehn Jahren beschlossene Marke werden erstmals auch die beiden grossen Länder Frankreich und Deutschland erreichen.
Doch die Sache hat einen Haken: Das Zwei-Prozent-Ziel wurde für friedlichere Zeiten beschlossen, heute ist es faktisch obsolet. Angesichts der russischen Kriegsdrohungen müsste sich die Nato wohl mindestens drei Prozent vornehmen, die Frontstaaten noch mehr. Im vergangenen Jahr lagen nur Polen und die USA deutlich über dieser Marke.
Dass die Verteidigungsbudgets zwar wachsen, aber die Lücken trotzdem immer drastischer sichtbar werden, ist eine Katastrophe. Allein die Nachhol-Investitionen beim Militär dürften in den nächsten Jahren einen dreistelligen Milliardenbetrag verschlingen. Aber eine Fortsetzung der Vogel-Strauss-Politik ergibt keinen Sinn. Europa erhält nun die Quittung für jahrelanges Appeasement gegenüber Russland, das der Kreml geradezu als Einladung zu seiner kriegerischen Grossmachtpolitik verstanden hat.