In der Graphic Novel «Die letzte Einstellung» schildert Isabel Kreitz die Zerrissenheit eines Schriftstellers, der sich nach dem Berufsverbot durch die NSDAP als Propagandist verdingt. Sein Schicksal ist beispielhaft für Künstler in innerer Emigration.
Die Situation spitzt sich zu. Weil die alliierten und die sowjetischen Truppen vor Berlin stehen, wird der Drehort des letzten Nazi-Propagandafilms aus den Babelsberger Filmstudios ins abgelegene Dorf Bardowick verschoben. Dort bemüht sich eine orientierungslose Crew um den zunehmend verzweifelten Regisseur Wolfgang Liebeneiner, den von Joseph Goebbels geforderten (und womöglich auch von ihm geschriebenen) Durchhaltefilm «Das Leben geht weiter» auf Zelluloid zu bannen. Doch es fehlt an allem, Liebeneiner kämpft um jedes Stück Dekor, um jeden Meter Film – aber eigentlich wissen alle, dass dieser Film nie fertig werden wird.
Das groteske Filmprojekt wird von Heinz Hoffmann beobachtet, einem Autor, den die Nazis schon 1933 mit einem Berufsverbot belegt haben. Trotzdem hat Hoffmann dem Exil die innere Emigration vorgezogen. Seither hält er sich unter Pseudonym mit der gelegentlichen Mitarbeit an Drehbüchern über Wasser.
Innere Emigration
Die Geschichte um «Das Leben geht weiter» hat sich tatsächlich so zugetragen. Bei Heinz Hoffmann indes, dem Protagonisten von Isabel Kreitz’ Graphic Novel «Die letzte Einstellung», handelt es sich um eine fiktive Figur, die beispielhaft ist für innere Emigration von Künstlern und Intellektuellen im «Dritten Reich».
Die 1967 geborene Isabel Kreitz beschäftigte sich als Comic-Autorin immer wieder mit der Geschichte Deutschlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ihren Durchbruch erlebte sie vor dreissig Jahren mit der Adaption von Uwe Timms Novelle «Die Entdeckung der Currywurst». Später hat sie packende Biografien des Serienmörders Fritz Haarmann und des Spions Richard Sorges vorgelegt. Parallel dazu hat sie mehrere Klassiker von Erich Kästner zu Comics verarbeitet: «Der 35. Mai», «Das doppelte Lottchen», «Pünktchen und Anton» und natürlich «Emil und die Detektive».
Erich Kästner gehörte zu den Autoren, die Nazideutschland trotz der Verbrennung ihrer Bücher und Berufsverbot nicht verliessen. Wie Heinz Hoffmann verdingte er sich unter falschem Namen als Drehbuchautor für Unterhaltungsfilme. So ist es auch kein Zufall, dass Heinz Hoffmann die Gesichtszüge Kästners trägt, aber auch gewisse charakterliche Eigenschaften mit ihm teilt – seine Neigung zum Alkohol etwa oder seine Frauengeschichten.
Kreitz hat nicht den Anspruch, eine innere Emigration exemplarisch und lückenlos-chronologisch aufzuzeigen. Vielmehr konzentriert sie sich auf zwei Schlüsselmomente: die Machtübernahme der Nazis und den Moment kurz vor dem Untergang des «Dritten Reichs».
Hoffmann, ein angesehener Zeitungsmann und Schriftsteller, beobachtet den Sieg der Nazis gelassen. Statt seine Heimat zu verlassen, verbringt er lieber ein paar Wochen mit der Praktikantin Erika Harms in einem Kurort, um mit ihr ein Drehbuch zu schreiben. Dass er dabei ein Kind zeugt, war nicht geplant. Als die Nazis den Druck auf Intellektuelle und Künstler erhöhen, zieht sich Hoffmann aus dem öffentlichen Leben zurück. Erika Harms hingegen macht Karriere in der deutschen Filmindustrie.
1945 klopft Hoffmann an Harms Tür. Seine Wohnung wurde von alliierten Bomben zertrümmert, er ist obdachlos und wirkt verwahrlost. Harms bietet ihm Zuflucht – und bringt ihn, weil das Skript von «Das Leben geht weiter» so miserabel ist, als Autor ins Spiel. So landet Hoffmann in Bardowick.
Hoffmann hat zwar die Lust auf Alkohol und Frauen so wenig verloren wie seinen Sarkasmus. Aber er wirkt, nach zwölf Jahren in der inneren Emigration, ausgelaugt und deprimiert. Aus Gesprächen mit Kollegen und Filmleuten ist herauszuspüren, dass er seine Entscheidung, in Deutschland zu bleiben, unterdessen in Zweifel zieht. Er rechtfertigt sie aber damit – wie Kästner in seinen Kriegstagebüchern –, dass er Material für ein grosses Buch über das «Dritte Reich» sammle.
Behutsam umkreist Isabel Kreitz das moralische Dilemma und die materiellen Zwänge Hoffmanns, die Gratwanderung zwischen Widerstand und Opportunismus. Er lebt von seinem Ersparten und Auslandstantiemen, doch das reicht nicht aus. Als Drehbuchautor macht er sich jedoch der Kollaboration und der Nazipropaganda schuldig.
Isabel Kreitz ist eine beeindruckende Autorin. Sie erzählt ihre komplexe und an Zwischentönen reiche Geschichte ausschliesslich in Bildern und Dialogen – es gibt keinen allwissenden Erzähler, keine Off-Texte, alles erschliesst sich durch die Handlung. Die Dialoge wirken sehr natürlich, und auch die Figuren – die historischen wie die erfundenen – sind glaubhaft.
Realistisch und detailreich
Dadurch erhält «Die letzte Einstellung» einen filmischen Fluss, der von der Bildsprache noch intensiviert wird: Kreitz’ schwarz-weisse Bleistiftzeichnungen sind eher dunkel, aber realistisch und detailreich, sie lassen eine ganze Welt aufleben. Besonders eindrücklich sind Bildstrecken, in denen Kreitz die propagandistischen Illusionen in den Kinopalästen auf das graue Elend des zunehmend zerbombten Berlin prallen lässt.
«Die letzte Einstellung» reflektiert so auf differenzierte Weise den Kampf um das Überleben in einer Diktatur und die Schwierigkeit, in dieser Situation an Gewissen, Werten und Moral festzuhalten. Das sind Themen, die im gegenwärtigen Kontext autoritärer Regierungen und neuer Diktaturen wieder an Dringlichkeit gewinnen.
Isabel Kreitz: Die letzte Einstellung. Reprodukt-Verlag, 2025. 304 S., Fr. 42.90.