Statt einer regelbasierten Weltwirtschaft haben wir heute eine Zweiklassengesellschaft. Der neuste europapolitische Vorstoss des Bundesrats hat deshalb wenig Aussicht auf Erfolg.
Das Scheitern der jüngsten WTO-Runde in Abu Dhabi hat erneut demonstriert, wie schwierig internationale Kooperation geworden ist. In den 1990er Jahren galt die frisch gegründete Welthandelsorganisation mit Sitz in Genf als Inbegriff der regelgebundenen Globalisierung. Alle Länder, ob gross oder klein, hatten dieselben Rechte und konnten beim Welthandelsgericht Klage einreichen, wenn die vereinbarten Freihandelsregeln verletzt wurden.
Damit ist es längst vorbei. Die USA verhindern seit Jahren die Neubesetzung der Richter, so dass der Gerichtshof nicht mehr beschlussfähig ist. Die WTO hat ihre Klauen und Zähne verloren.
Falsch ist jedoch der Eindruck, die regelgebundene Globalisierung sei deswegen bereits an ihr Ende gelangt. Nur weil die Grossmächte sich nicht mehr Ketten anlegen lassen wollen, heisst das noch lange nicht, dass alle Länder internationale Abkommen nicht mehr einhalten müssen.
Es handelt sich vielmehr um die Rückkehr zu einer Zweiklassengesellschaft, die nur vorübergehend und nie ganz verschwunden war. Was sich heute abspielt, erinnert an einen Ausspruch des amerikanischen Finanzministers John Connally vor fünfzig Jahren. Als der schwache Dollar wieder einmal das ganze Währungsgefüge destabilisierte, meinte er süffisant zu den Europäern: «Der Dollar ist unsere Währung, aber euer Problem.»
Die Schweiz hat sich rasant verändert
Typisch ist etwa die Einführung der OECD-Mindeststeuer. Die USA haben mit aller Macht darauf hingewirkt, dass die Unternehmen in Zukunft mindestens 15 Prozent Steuern bezahlen müssen. Sie denken jedoch nicht daran, diese Vorgabe im eigenen Land umzusetzen, während die EU-Länder und die Schweiz die eigenen Steuergesetze anpassen.
Die Schweizer Politik hat auch bei der Abschaffung des Bankgeheimnisses mit Verwunderung feststellen müssen, dass mit zweierlei Ellen gemessen wird. Bei uns wird der automatische Informationsaustausch (AIA) eingeführt, in den USA gilt nach wie vor das alte Regime.
Die amerikanische Finanzministerin Janet Yellen meinte unlängst: «In der allgemeinen Vorstellung sind kleine Länder mit einer Geschichte von lockeren und geheimnisvollen Finanzgesetzen die zentralen Orte der Geldwäscherei. Aber es spricht vieles dafür, dass der beste Ort zum Verstecken und Waschen unrechtmässig erworbener Gewinne derzeit die Vereinigten Staaten sind.»
Wie lange werden die braven westlichen Länder diese Zweiklassengesellschaft akzeptieren? Die Abgabe von Souveränität zugunsten der regelgebundenen Globalisierung hat ja ohnehin an Unterstützung verloren, weil ihre Konsequenzen so weitreichend sind.
Gerade die Schweiz hat sich in den letzten zwanzig Jahren so rasant und so grundlegend verändert, dass wir von einer Art Neugründung sprechen können. In der Politik ist der Anteil der international vorgegebenen Gesetzesänderungen sprunghaft angestiegen. Grosse Teile der Wirtschaft sind vollkommen internationalisiert. Auch der Kulturbetrieb hat sich weitgehend vom Territorium abgelöst. Englisch wird zunehmend zur schweizerischen Verkehrssprache.
Subventionen statt Revolte
Und schliesslich hat sich die Gesellschaft demografisch enorm verändert, weil die Schweiz die Souveränität über die Migration weitgehend verloren hat. Die Einzigen, die noch einen uneingeschränkten Inländervorrang geniessen, sind die Politikerinnen und Politiker. Alle anderen müssen sich auf dem einheimischen Arbeitsmarkt dem internationalen Wettbewerb mit Europäern stellen.
Doch bei allem Unbehagen über das Tempo der Veränderung, das mittlerweile sogar in der bürgerlichen Mitte angekommen ist, dürfte es nicht zu einer Revolte kommen. Bei Abstimmungen und Wahlen ist zwar bisweilen eine Empörung spürbar, aber die Mehrheit würde sich nie getrauen, das globale Regelwerk und die Zweiklassengesellschaft der internationalen Politik infrage zu stellen.
Eher beginnt man darüber nachzudenken, wie man das Subventionssystem zu seinen eigenen Gunsten nutzen und seine Schäfchen ins Trockene bringen kann. Der Plan B gehört mittlerweile zum festen Bestandteil jedes Gesprächs über die persönliche Zukunft.
Unwahrscheinlich ist aber auch, dass eine Mehrheit zu einem weiteren Öffnungsschritt bereit sein wird. Der neuste europapolitische Vorstoss des Bundesrats hat deshalb wenig Aussicht auf Erfolg. Bei den Verhandlungen mögen die Schweizer Diplomaten vielleicht noch die eine oder andere Konzession herausholen, aber an der asymmetrischen Ausgestaltung des Vertrags wird sich nichts ändern.
Die EU versteht sich als Motor der regelgebundenen Globalisierung und verlangt von der Schweiz einen weiteren Integrationsschritt. Aber genau das stösst hierzulande seit längerem auf Widerstand. Wer schon globalisierungsmüde ist, hat kein Interesse daran, noch mehr Souveränität abzugeben.
Tobias Straumann ist Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich.