Der Bundesrat muss das gesetzliche Minimum der Jahresfranchise bei den Krankenkassen von derzeit 300 Franken erhöhen. Diesen Auftrag hat das Parlament nun erteilt.
Steigt der Preis, sinkt die Nachfrage. Das gilt meistens im Leben. Das Parlament will, dass in der Grundversicherung der Krankenkassen der Preis der Konsumenten für den Bezug von Gesundheitsleistungen steigt – damit der Preis für die Versicherung (Krankenkassenprämie) sinken kann.
Schon heute übernimmt die Krankenkasse nicht die vollen Kosten von versicherten Gesundheitsleistungen. Die erwachsenen Versicherten zahlen bei der Wahl der Minimalfranchise die ersten 300 Franken Gesundheitskosten pro Jahr selber. Hinzu kommt ein Selbstbehalt von 10 Prozent der Kosten, welche die Franchise übersteigen – bis zu maximal 700 Franken pro Jahr. Bei Spitalaufenthalt beträgt der Selbstbehalt 15 Franken pro Tag.
Die Versicherten haben die Wahl der Jahresfranchise zwischen dem Minimum von 300 Franken und fünf höheren Schwellenwerten (500 bis 2500 Franken pro Jahr). Je höher die Franchise, desto höher ist der Prämienrabatt. Das Parlament will nun das Franchise-Minimum erhöhen. Der Nationalrat hat am Mittwoch eine Motion dazu deutlich angenommen. Da der Ständerat schon im letzten Jahr Ja sagte, muss der Bundesrat das Anliegen umsetzen. Die Regierung war mit dem Vorstoss einverstanden.
Bald 500 Franken?
Das Thema illustrierte den klassischen Links-rechts-Graben. Die Bürgerlichen unterstützten im Namen der Selbstverantwortung den Vorstoss. Und die Linke, für die Selbstverantwortung häufig ein Schimpfwort ist, lehnte ihn ab.
Der Bundesrat könnte die Minimalfranchise in eigener Kompetenz erhöhen. Das Parlament verlangt aber im Prinzip eine regelmässige Anpassung an die Kostenentwicklung in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP). Das braucht eine Gesetzesänderung. Der Vorstoss nennt keine Zahlen; über diese soll weiter der Bundesrat befinden. Doch die Befürworter des Vorstosses monierten, dass die Minimalfranchise seit 2004 unverändert geblieben ist, obwohl die OKP-Kosten massiv gestiegen sind. Würde die Mindestfranchise proportional zu den OKP-Kosten pro Versicherten steigen, müsste heuer die Mindestfranchise zwischen 400 und gut 700 Franken liegen. Die genaue Zahl hängt vom Vergleichsjahr und von den Details des Vergleichsmassstabs ab.
Was wird der Bundesrat nun tun? Das federführende Bundesamt für Gesundheit wollte sich am Donnerstag auf Anfrage weder zu konkreten Zahlen noch zum Fahrplan äussern, da dies noch offen sei. Die Sozialministerin Elisabeth Baume-Schneider kündigte im Nationalrat nur das übliche Programm an: zuerst eine Analyse, dann eine Vernehmlassung.
Der Krankenkassenverband Prioswiss regt folgendes Vorgehen an: Erhöhung der Franchise per Anfang 2027 auf 500 Franken und parallel dazu Ausarbeitung einer Gesetzesrevision für eine Wegleitung zu künftigen Anpassungen. 500 Franken ist eine mehrfach gehörte Zahl: Sie ist rund, sie liegt komfortabel innerhalb der erwähnten Bandbreite von 400 bis gut 700 Franken, und sie entspräche einer moderaten Erhöhung.
45 Prozent direkt betroffen
2023 hatten rund 3,3 Millionen Erwachsene (ab Alter 19) ein Versicherungsmodell mit Franchise 300 Franken. Das sind etwa 45 Prozent aller Erwachsenen. Bei einem Anstieg der Mindestfranchise auf 500 Franken könnte die Krankenkassenprämie der Betroffenen unter Umständen um etwa 2 Prozent sinken (bzw. weniger steigen). Diese Grössenordnung ergäbe sich aus dem Rabatt, den grosse Krankenkassen derzeit für die Franchise von 500 Franken im Vergleich zur Mindestfranchise gewähren.
Bei Annahme einer Jahresprämie von heuer durchschnittlich etwa 5000 bis 6000 Franken bei Modellen mit Mindestfranchise entsprächen 2 Prozent einer Einsparung von 100 bis 120 Franken. Dem steht das Risiko gegenüber, bis zu 200 Franken zusätzlich selber zahlen zu müssen. Laut Gesetz darf der Rabatt bei Franchisen über 300 Franken höchstens 70 Prozent des Zusatzrisikos betragen.
Die internationale Forschungsliteratur lässt mutmassen, dass höhere Kostenbeteiligungen den Konsum von Gesundheitsleistungen senken. Darauf deutet etwa der Überblick einer Forschungsgruppe von 2017 im Auftrag des Bundes. 2024 ergab eine Studie der Universität Basel mit Daten der Krankenkasse Helsana, dass die Bruttokosten für Versicherte mit Franchise von 500 Franken im Mittel rund 1200 Franken pro Jahr tiefer waren als für Versicherte mit der Mindestfranchise. Dies vor allem darum, weil eher Gesündere höhere Franchisen wählen. Aber auch unter Ausklammerung dieses Selektionseffekts orteten die Forscher noch eine Kostendifferenz von etwa 200 Franken pro Jahr; zusammen mit der grösseren Kostenbeteiligung der Versicherten brachte dies der Krankenkasse eine Einsparung von 360 Franken pro Versicherten.
Doch das Bild ist nicht einheitlich. Theoretisch nimmt die Konsumneigung eines Versicherten zu, sobald er in einem Jahr die Jahresfranchise bezahlt hat – weil danach Leistungen im gleichen Jahr für den Betroffenen plötzlich viel günstiger werden. Eine Analyse der Universität St. Gallen von 2023 mit Krankenkassen-Daten der Groupe Mutuel liess zwar einen solchen Effekt vermuten, doch die gemessene Differenz war nicht statistisch signifikant. Eine Schweizer Studie von 2015 hatte dagegen mit einem ähnlichen Studienansatz einen klaren Effekt geortet.
Im Nebel
Reduziert eine höhere Kostenbeteiligung vor allem «unnötige» oder eher «nötige» Behandlungen? Die Forschungsliteratur zeigt dazu kein schlüssiges Bild. Im Nationalrat warnten diese Woche linke Vertreter vor Mehrkosten. In einer Erhebung von 2020 sagten 23 Prozent der Befragten, aus Kostengründen in den vorangegangenen zwölf Monaten auf Gesundheitsleistungen verzichtet zu haben. In einer anderen Erhebung für 2022 sagten rund 3 Prozent, dass sie aus finanziellen Gründen auf «nötige» Gesundheitsleistungen verzichtet hätten.
Eigentlich müssten es die Krankenkassen wissen: Sie haben ein starkes Interesse an der Reduktion unnötiger Behandlungen, und sie haben ein ebenso starkes Interesse, dass es die nötigen Behandlungen zwecks Vermeidung künftiger Mehrkosten gibt. Doch auch der Krankenkassenverband kann keinen klaren Befund liefern: «Wir sind hier im Bereich der Hypothesen.»