In Winterthur setzten die Behörden auf eine sanfte Methode der Vergrämung. Anderswo in der Schweiz stand ein Abschuss zur Debatte.
Was haben die Mitarbeitenden des Friedhofs nicht schon alles versucht, um die Lage in den Griff zu bekommen.
Sie haben die Blumen auf den Gräbern mit stinkender Flüssigkeit besprüht («biologisch, bienenfreundlich, insektenfreundlich»). Sie haben schmackhafte Gräser und Kräuter angepflanzt, um vom Grabschmuck abzulenken. Sie haben jedes noch so kleine Loch im Zaun gesucht und ausgebessert. Nichts hat geholfen.
Der Friedhof Rosenberg am Stadtrand von Winterthur hat ein Reh-Problem. Auf der Anlage direkt neben dem Wald finden die Tiere auf den Gräbern jeden Tag eine reich gedeckte Tafel mit frischen Blumen und anderen Pflanzen – und die mögen die Rehe offenbar viel lieber als Gras und Kräuter. Etwa zwölf Rehe ernährten sich vom Grünzeug auf dem Friedhof, berichtet die Stadt am Dienstag.
Zu den tierischen Besuchern schreibt sie trocken: «Da von den Friedhofbesuchenden in der Regel keine Gefahr ausgeht und insbesondere Hunde auf der Anlage verboten sind, werden sie kaum mehr aufgeschreckt und sind mit den Menschen sehr vertraut.» Viele erfreuten sich auch am Anblick der Tiere.
Allerdings machen sich die Rehe mit ihren Besuchen nicht nur Freunde. Hinterbliebene beschwerten sich über abgefressenen Blumenschmuck und zertrampelte Grabfelder. Deshalb hat die Stadt Winterthur beschlossen: Die Wildtiere müssen weg.
Schäden von 100 000 Franken in Basel
Das Phänomen der Problem-Rehe auf Friedhöfen kennen auch andere Gemeinden. In Zollikon an der Zürcher Goldküste informierte der Friedhofsgärtner die Besucher vor ein paar Jahren über ein Reh, das täglich seine Runden machte und fast die ganze Frühlingsbepflanzung frass. Besucherinnen und Besucher wurden gebeten, das Tor zum Friedhof zu schliessen, «damit der Zugang nicht ganz so einfach ist für das Reh».
«Wäre ich ein Reh, würde ich auch den Friedhof besuchen», sagte der Friedhofsgärtner zu den Tamedia-Zeitungen. Denn: «Hier ist es ruhig, und es gibt keine Hunde.»
In St. Gallen machten sie sich bevorzugt über Rosen und Chrysanthemen her. Besucher hätten beim Anblick von verwüsteten Gräbern im Friedhof Feldli befürchtet, diese seien geschändet worden, berichtete der Tierschutzbeauftragte der Stadtpolizei dem «St. Galler Tagblatt». Sie seien dann erleichtert gewesen ob der Nachricht, dass es «nur» Rehe gewesen seien, die sich gütlich getan hätten.
Loswerden wollte man sie trotzdem. Um die Tiere zu vertreiben, wurden auf dem Friedhof Säckchen abgelegt, die nach Hunden und menschlichem Schweiss rochen.
Mit mässigem Erfolg. «Friedhofsleiter weiss nicht mehr weiter», titelte das «St. Galler Tagblatt» im Jahr 2022 und berichtete, man schaue besorgt Richtung Allerheiligen – dann, wenn Hinterbliebene jeweils die Gräber schmückten und den Rehen so ein wahres Festmahl böten.
Schweizweit Schlagzeilen machte eine Gruppe von Rehen, die sich jahrelang im grössten Friedhof der Schweiz verköstigte: dem Friedhof am Hörnli in Riehen bei Basel. Dort sollen sie im Jahr 2020 Schäden in der Höhe von rund 100 000 Franken verursacht haben.
Weil sich die Tiere einfach nicht vertreiben lassen wollten, hatten die Verantwortlichen im Justiz- und Sicherheitsdepartement des Kantons Basel-Stadt vor fünf Jahren genug. Sie ordneten an, einzelne Tiere abzuschiessen.
Diese Absicht rief dann aber die Fondation Franz Weber auf den Plan. Die Umweltschutzorganisation mit Sitz in Bern rekurrierte gegen die Anordnung und sammelte mit einer Petition 80 000 Unterschriften, um die Abschüsse zu verhindern.
Mit Erfolg: Die Tiere wurden nicht abgeschossen, sondern umgesiedelt. 2023 und 2024 organisierte die Fondation den «Umzug» von jeweils rund zwei Dutzend Tieren in den benachbarten Kanton Jura.
Gesichtet: zwei Rehe und ein Bock
Ans Abschiessen denken die Behörden in Winterthur nicht. Sie haben sich dafür entschieden, die Rehe zurück in den Wald zu treiben, der direkt an den Friedhof angrenzt. Für diese Mission hat sie nichts dem Zufall überlassen.
Zwei Tage lang haben Mitarbeitende von Stadtgrün Winterthur Drohnen steigen lassen, die mit Wärmebildkameras bestückt waren und das Gelände nach den Rehen absuchten. Ein Teil des Zauns wurde vorübergehend abmontiert.
Am Dienstag war es dann so weit: 120 Mitarbeitende der Stadt in Leuchtkleidung trieben die Rehe in den nahen Wald zurück. Die mit Funkgeräten ausgerüsteten Treibgruppen hätten besonders darauf geachtet, die Aktion so langsam und ruhig wie möglich durchzuführen, um die Tiere nicht aufzuschrecken, sondern sie «langsam nach Westen in den Wald» ausweichen zu lassen.
Zwei Rehe und ein Rehbock seien beim Verlassen des Friedhofgeländes gesichtet worden, rapportiert die Stadt. Die übrigen Tiere hätten das Gelände offenbar vorher verlassen. Und die Stadt fügt an: «Weder Tiere noch Menschen wurden bei der Aktion verletzt.»
Fürs Erste dürfte nun Ruhe einkehren auf dem Friedhof. Lange anhalten wird sie kaum. Die Anlage sei für die Rehe «derart attraktiv», dass sie wohl bald wieder in den Friedhof zurückwandern würden, heisst es in der Mitteilung.
Zwar wurde der ganze Zaun rund um das Friedhofsgelände kontrolliert und wo nötig repariert oder erhöht. Aber die Rehe machen sich offenbar nicht einmal mehr die Mühe, nach einer Lücke im Zaun zu suchen. Sie gehen auch gerne ganz bequem durch offengelassene Tore.
Die Stadt will die Situation nun beobachten und bei Bedarf Massnahmen ergreifen – mit dem Ziel, «ein gutes und vertretbares Gleichgewicht zwischen Rehwildbestand und Schäden an Anlagen und Pflanzen aufrechtzuerhalten».
Bald dürfte es also heissen: 2:1 für die Rehe.