Unternehmen aus der Schweiz und Deutschland müssen im Wettbewerb mehr bieten als Tradition und Wunschdenken. Der Rest ist Strukturwandel.
Es gibt zwei Dinge, die einem Unternehmen nicht gut bekommen: Nostalgie und Utopie. Nostalgie lebt von der Vergangenheit, Utopie von der Zukunft. Beiden fehlt der Bezug zur Gegenwart – aber genau dort müssen Unternehmen ihre Produkte verkaufen. Wie das schiefgehen kann, erlebt die Schweiz gerade im Multipack: an den Krisen bei Swiss Steel und Stahl Gerlafingen einerseits sowie bei dem Solarzellenhersteller Meyer Burger anderseits.
Da spielt es keine Rolle, ob es um scheinbar archaische Produkte wie Stahl oder sogenannte Zukunftstechnologien wie Solarmodule geht. Die Lehre für die Unternehmen wie auch für die Standorte Schweiz und Europa ist klar: Um eine Industrie erfolgreich zu machen, braucht es mehr als Wunschdenken.
Hilferufe sind kein Qualitätsmerkmal
Zugegeben, das ist eine bittere Pille. Stahl ist Nostalgie. Aus Stahl wurde die europäische Industrialisierung gebaut. Stahlwerke waren Monumente des Fortschritts und sind mit ihrer Belegschaft enorm lokal verankert. Die Welt wird weiterhin Stahl brauchen – aber nicht Stahl aus Europa. Jedenfalls nicht in diesem Ausmass. Sonst würde Swiss Steel nicht um die dritte Kapitalerhöhung in vier Jahren kämpfen und Stahl Gerlafingen auf staatliche Unterstützung hoffen.
Ähnlich ist es mit dem Traum von einer Welt, die nur von Sonne und Wind angetrieben wird. Europäische Solarmodule haben es schwer. Meyer Burger aus Thun kämpft um das finanzielle Überleben. Gegen die günstige Konkurrenz aus China hat das Unternehmen keine Chance. Jetzt braucht die Firma Geld, um den Produktionsaufbau in den USA zu finanzieren. Dort winken enorme Förderungen, während Subventionen aus Deutschland, wo die europäischen Werke stehen, aus guten Gründen auf sich warten lassen.
Aber wenn Nostalgie und Utopie scheitern, welche Industrie hat dann eine Zukunft? Sicher keine, die ständig Hilfe braucht. Europas Stahl-Krise ist chronisch. Doch mangelt es hierzulande an Stahl? Deutschlands Solarindustrie ist vor einer Dekade schon einmal untergegangen. Hat das die Solarwende aufgehalten? Der Blick auf die Dächer zeigt anderes. Der Fortschritt kommt, der Rest ist Strukturwandel.
Die Entwicklung hat es leichter als die Produktion
Das zentrale Problem für Europas Industriefirmen sind die hohen Produktionskosten. Manchmal sind sie eine schmerzhafte Anpassung an gestiegene Energiepreise, etwa weil günstiges russisches Erdgas zu lange als zargegeben hingenommen wurde. Manchmal sind sie ein Tribut für den höheren Wohlstand, der in Form höherer Löhne eingefordert wird – erst recht in der Schweiz. Hier kommt der starke Franken hinzu, der den Erfolg der Volkswirtschaft zum Problem des Exporteurs macht.
Die erste Konsequenz ist eine Binsenweisheit: Industrieprodukte müssen so viel besser sein, wie sie teurer sind. Also müssen die Kosten runter. Swiss Steel setzt auf Green Steel, der aus Stahlschrott hergestellt und umweltfreundlicher produziert wird. Doch das ist offenbar selbst umweltbewegten Abnehmern zu teuer.
In der Schweiz wird oft nur eine weitgehend automatisierte Produktion eine Zukunft haben, so wie beim WC-Hersteller Geberit in Jona. Oder die Produktion wird ausgelagert. Winterthur Gas & Diesel, einer der weltweit führenden Entwickler von hausgrossen Schiffsmotoren, hat keine eigenen Fabriken.
Der Fehler liegt nicht beim Kunden
Die vielleicht grösste Hürde: Ein Produkt muss ein Bedürfnis am Markt erfüllen. Solarzellen von Meyer Burger mögen technisch besser sein als die chinesische Konkurrenz. Aber für die Solarwende reicht die chinesische Konkurrenz in den meisten Fällen aus. Wenn man den Kunden nicht vom eigenen Produkt überzeugen kann, liegt der Fehler selten beim Kunden.
Auf dem Mutterkontinent der Industrialisierung ist viel Platz für Nostalgie und in den Ingenieursabteilungen der Konzerne viel Platz für Utopien. Die Gegenwart trennt die Spreu vom Weizen.