Um die Proteste einzudämmen, schickte die Regierung Polizei und Militär in den Kampf gegen die Bürger. Nun zeigen Videos das brutale Vorgehen. Die unnachgiebige Reaktion von Premierministerin Sheikh Hasina vertieft die Krise noch weiter.
Die Studentenproteste sind vorbei, die Ausgangssperre ist aufgehoben, und die Internetverbindung ist wiederhergestellt in Bangladesh. Die Debatte über das brutale Vorgehen der Regierung von Sheikh Hasina hat jedoch gerade erst begonnen. Die tagelangen Zusammenstösse zwischen Demonstranten und den Sicherheitskräften haben laut Medienberichten mehr als 200 Menschen das Leben gekostet. Bei der Niederschlagung der Proteste sollen Polizei, Armee und Grenzschutz neben Tränengas auch Schrotkugeln und scharfe Munition eingesetzt haben.
Viele der Opfer waren Studenten in ihren Zwanzigern. In den letzten Tagen im Internet hochgeladene Videos zeigen, wie die Polizei aus nächster Nähe auf unbewaffnete Demonstranten schiesst. Das Video des Studenten Abu Sayyed in Rangpur, der trotz mehrfachen Schüssen der Polizei verletzt stehen blieb, heizte die Proteste noch an. Die Uno-Expertin Irene Khan sagte der BBC, die Erschiessung von Abu Sayyed und anderen Demonstranten qualifizierten als unrechtmässige Tötungen.
Die Proteste richteten sich gegen die Wiedereinführung einer Quote für die Nachkommen von Veteranen des Unabhängigkeitskriegs 1971. Sie sah vor, dass 30 Prozent aller Stellen im Staatsdienst für die Kinder und Enkel von Freiheitskämpfern reserviert werden. Die Demonstranten sahen dies als Bevorzugung der Anhänger der regierenden Awami League von Sheikh Hasina. Sie forderten, dass bei den hart umkämpften Stellen im Staatsdienst Leistung stärker honoriert werde.
Sheikh Hasina reagiert mit kompromissloser Härte
Angesichts der Gewalt der Polizei breiteten sich die Proteste von den Universitäten rasch auf das ganze Land aus. Nach tagelangen blutigen Unruhen entschied das Oberste Gericht am 21. Juli, dass die Quote von 30 auf 5 Prozent gesenkt werden sollte. Die Regierung akzeptierte zwar diese Reform, ging sonst aber mit grosser Härte gegen die Proteste vor. Sie entsandte am 19. Juli die Armee auf die Strassen mit der Anweisung zu schiessen, schaltete das Internet über Tage komplett ab und verhängte eine landesweite Ausgangssperre.
Premierministerin Sheikh Hasina reagierte unnachgiebig und machte die Opposition für die Gewalt verantwortlich. Sie warf insbesondere der Bangladesh Nationalist Party und der islamistischen Partei Jamaat-e Islami vor, die Studentenproteste ausgenutzt zu haben, um Regierungsgebäude anzugreifen und Polizisten zu ermorden. Am Montag beschloss die Regierung, die Jamaat-e Islami und ihre Studentenorganisation wegen antistaatlicher Aktivitäten zu verbieten.
Für Ärger sorgten Aufnahmen, die Sheikh Hasina weinend beim Besuch einer beschädigten Metrostation zeigten. In den sozialen Netzwerken wurde kritisiert, sie vergiesse Krokodilstränen über die Beschädigung eines Bahnhofs, nicht aber über die getöteten Studenten. Auch habe sie keine Angehörigen der Opfer besucht. Die 76-Jährige regiert das südasiatische Land seit 2009 autoritär. Im Januar wurde sie unter dem Boykott der Opposition für eine vierte Amtszeit gewählt.
Im Zusammenhang mit den Protesten nahm die Polizei rund 9000 Menschen fest, unter ihnen viele Vertreter der Opposition. Inhaftierte Demonstranten berichteten über Folter. Auch drei Studentenführer, die zur Behandlung im Spital waren, wurden von der Polizei in Gewahrsam genommen – angeblich zu ihrer eigenen Sicherheit. Die führende Zeitung «Daily Star» mahnte in einem Leitartikel, die Polizei müsse die Rechte der Demonstranten achten, die Häftlinge rasch einem Haftrichter vorführen und ihre Angehörigen informieren.
Die Ausgangssperre hat hohe Kosten für die Wirtschaft zur Folge
Die Unruhen und die viertägige Ausgangssperre bedeuteten hohe Kosten für die ohnehin schwächelnde Wirtschaft. Die lange Abschaltung des Internets schadete insbesondere dem Banken- und Finanzsektor. Eine Aussenhandelskammer schätzte die wirtschaftlichen Schäden auf 10 Milliarden Dollar. Die Rating-Agentur S&P stufte die Kreditwürdigkeit Bangladeshs am Dienstag von B+ auf BB– herab und kritisierte dabei auch den Mangel an Checks und Balances im Land.
Vertreter des wichtigen Textilsektors forderten, rasch Massnahmen zu ergreifen, um Verzögerungen bei der Verschiffung der Waren zu verhindern. Derzeit läuft die Produktion für das wichtige Weihnachtsgeschäft. Die Unruhen führten zu Produktionsausfällen und Lieferengpässen. Der Textilsektor kommt für 85 Prozent aller Exporte auf. Die Nähereien haben wesentlich zur Entwicklung des Landes beigetragen und Hunderttausende Arbeitsplätze geschaffen.
Allerdings bietet der Sektor kaum Stellen für Universitätsabsolventen. Die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch, der Kampf um die Stellen im Staatsdienst ist hart. Dies erklärt die Wut über die Wiedereinführung der Quotenregelung. Die Proteste sind zwar vorerst vorbei, doch die brutale und unverhältnismässige Reaktion der Regierung hat diese in eine Krise gestürzt. Da seit der Wiederherstellung der Internetverbindung ständig weitere Fotos und Videos der Gewalt an die Öffentlichkeit dringen, ist kaum zu erwarten, dass die Kritik an Sheikh Hasina rasch abreisst.