Von Bauern, die sterben, und solchen, die überleben. Eine Reportage.
Langsam rollen sie über den Feldweg, biegen ein auf die Wiese, reihen sich nebeneinander auf, stehen nun dort wie eine kleine Panzerarmee, die auf den Befehl zum Angriff wartet, und lassen ihre Warnlampen leuchten. Es sind über 600 Traktoren, über 600 Bauern an diesem Freitagabend im März, 20 Kilometer nördlich von Bern.
Ein paar von ihnen stehen in einem Halbkreis vor ihren Traktoren, aus einer Box erklingt Schweizer Pop-Musik, dann sagt einer den Satz: «Wir werden alle an Hunger sterben.»
Er meint das nicht als Witz. Die Theorie geht so: Wenn die Bauern sterben, verhungert das Volk. Und die Bauern sterben schon lange. Heute gibt es noch 48 000 Bauernhöfe in der Schweiz, vor vierzig Jahren waren es doppelt so viele. Allein im vergangenen Jahr verschwanden jede Woche zehn Höfe. Hier auf der Wiese kennt jeder einen Bauer, der es nicht geschafft hat.
Roland, ein 43-jähriger Landwirt aus dem Emmental, hat miterlebt, wie sein Nachbar aufgeben musste und später auch sein Onkel. Der sei jetzt bei der Sozialhilfe, sagt er, «armengenössig, obwohl er gekrampft hat wie ein Stier». Er selbst werde auch nicht mehr lange durchhalten. Zuletzt konnte er eine Tierarztrechnung nicht mehr bezahlen, sagt Roland. Seinen Nachnamen verrät er nicht. Es nicht zu schaffen, sei ein Versagen. «Und dafür schäme ich mich.»
Die Bauernproteste haben die Schweiz überrascht. In den Nachbarländern, ja, klar wüten da die Bauern. Aber doch nicht hier, bei uns. Nur Norwegen zahlt mehr Subventionen an die Landwirtschaft. Die Einkommen der Schweizer Bauern sind in den vergangenen Jahren gestiegen. Und seit den letzten Wahlen sind ein Sechstel der Parlamentarier in Bern Landwirte. Was wollen sie denn noch?
Mehr Geld für die Milch, hiess es zu Beginn der Proteste, die im Welschland ihren Anfang nahmen. Jetzt heisst es auch von Gemüse- und Schweinebauern: faire Preise für unsere Produkte. Und mehr Wertschätzung. Und weniger Regulierung. Oder einfach mal eine Politik, die sich nicht alle paar Jahre ändert.
Für Nichtlandwirte klingt das unverschämt. Schliesslich gibt der Bund jedes Jahr bereits 3,7 Milliarden Franken für die Landwirtschaft aus. Ohne das Geld wären die Bauern schon lange tot. Und natürlich: Wer zahlt, befiehlt. Das verstehen doch sogar die Bauern.
Und die Bauern sagen: Aber ihr wisst doch auch, alles wird teurer, der Diesel, die Ersatzteile für unsere Maschinen, das Futter für die Kühe. Es reicht einfach nicht. Wir sterben. Zehn pro Woche geben auf!
Auf der Wiese erzählt man sich einen Witz: «Weisst du, warum wir Bauern unseren Kindern zu kleine Gummistiefel geben? Damit sie lernen zu jammern.» Die Bauern als Jammeri, diesen Ruf hatten sie schon immer, und nicht einmal sie selber finden ihn ganz falsch.
Wie ernst muss man die Proteste nehmen? Sind sie Ausdruck echter Not, die man mit mehr Geld lindern könnte? Oder versammeln sich hier einfach die nächsten Opfer des Strukturwandels: jene, die den kommenden Untergang spüren, ohne ihn genau benennen zu können? Eine Geschichte von Bauern, die sterben, Bauern, die überleben, einem Roboter und vielen Traktoren.
Eine Bäuerin, der es gar nicht so schlecht geht
Nicole Mühlestein hat ihrem Vater das Herz gebrochen. Aber das musste sein, wenn sie als Bäuerin überleben will. Mühlestein, 32 Jahre alt, ist eine der Frauen in der Schweiz, die einen eigenen Bauernhof führen, sieben Prozent sind es. Das ist wenig, aber mehr als je zuvor. Vielleicht werde die Landwirtschaft langsam weiblich, schrieb die «Bauernzeitung», vielleicht braucht es neue Frauen, um die alten Probleme der Bauern zu lösen. Ein anderes Denken, andere Ideen.
Als Mühlestein ihren Hof bei Belp im Kanton Bern auf Bio umstellte und die 25 Kühe verkaufte, war das für ihren 70-jährigen Vater Jörg eine Katastrophe. Über Bio machte er sich lustig, einen Bauernhof ohne Kühe fand er sinnlos und den Hofladen merkwürdig, den die Tochter neben den Hof hinstellte. «Aber jetzt ist es so», sagt er und schaut auf den leeren Kuhstall. Und so wie es ist, ist es gar nicht schlecht.
Es ist der erste warme Tag des Jahres, früh an diesem Märzmorgen hat Nicole Mühlestein ihren Hofladen aufgeschlossen und dann bei ihren 600 Hühnern die Eier geholt. Jetzt, wo der Frühling kommt, beginnt für sie die schönste Zeit, die Luft duftet nach Gras und die Hände nach Erde.
Auf 25 Hektaren betreibt Nicole Mühlestein Ackerbau. 50 Stunden arbeitet sie in der Woche, aber sie findet das nicht viel. Eine Woche geht sie in die Ferien und findet das nicht wenig. Ein bisschen beissen müsse man schon, aber das ist sie sich gewohnt. Bevor sie Bäuerin wurde, hatte sie in der Krankenpflege gearbeitet, auch das eine Krisenbranche. Wirtschaftlich gehe es ihr heute gut, sagt sie, sie kommt auf über 100 000 Franken Einkommen, das ist ein Viertel mehr, als der Durchschnittsbauer verdient.
Aber anders als an einem gewöhnlichen Freitag geht Nicole Mühlestein an diesem Nachmittag nicht aufs Feld oder in den Stall, sondern setzt sich auf ihren ältesten Traktor, einen 30-jährigen Fiat 100-90 mit mannshohen Reifen und einem langen Auspuffrohr, und dreht den Schlüssel. Es raucht und knattert – und aus Nicole Mühlestein, der gut verdienenden Biobäuerin, ist eine Protestbäuerin geworden, die sich auf den Weg an die Bauerndemo macht.
Nicole Mühlestein hat vorher nie demonstriert, das war immer etwas für die anderen, für die Linken in den Städten, und sie ist in der SVP und hat eigentlich gar keine Zeit. Aber Mühlestein erzählt, als was die Bauern schon alles beschimpft worden seien: Umweltsünder, Bienentöter, Bodenverschmutzer. Sie hat alles schon gehört. Das verletzt, macht wütend.
Und dann ist da die Angst, die viele Bauern kennen. Die Angst vor dem Verschwinden.
Nicole Mühlestein wollte schon immer Bäuerin werden, so wie ihre Eltern, ihre Grosseltern und ihre Urgrosseltern. Ihr Bauernhof ist über 200 Jahre alt. Als die Schweiz damals zum ersten Mal ihre Menschen zählte, bestand das halbe Land aus Bauern. Heute sind es noch 2 Prozent. «Immer weniger zu werden, macht mir Sorgen», sagt Mühlestein.
150 000 Menschen arbeiten in der Landwirtschaft. Genauso viele Franzosen wohnen in der Schweiz, so viele Tennisspieler sind offiziell registriert, so viele Studenten sind an den Universitäten eingeschrieben. Die Bauern sind zu einer Minderheit im Land der vielen Minderheiten geworden.
Eine Minderheit, über die die Schweizer nicht genug wüssten, findet Mühlestein. Früher hatte jeder noch einen Grossvater, der Bauer war, oder einen Onkel, man ging in den Landdienst, «aber heute gibt es einen riesigen Spalt», sagt sie. «In den Städten liegt es im Trend, dass man nur noch 80 Prozent arbeitet oder lieber noch weniger. Warum sollen wir dann so viele Stunden investieren und erst noch zu einem schlechteren Lohn?» Der durchschnittliche Stundenlohn eines Bauern in der Schweiz liegt bei 17 Franken.
Als Mühlestein ganz langsam losknattert, ruft ihr Vater Jörg zu: «Schau grimmig, du gehst auf eine Demo!» Sie kneift die Augen zusammen, versucht, böse dreinzuschauen, dann muss sie lachen, fährt vom Hof, biegt in die Hauptstrasse ein, mitten in den Feierabendverkehr, und zieht sofort eine Autoschlange hinter sich her. Eine Stunde später fährt sie auf den Feldweg, der auf die grosse Wiese führt, wo die Bauern demonstrieren.
Der Protest und das Sorgentelefon
Im Dreck liegt eine Holzpalette, sie ist die Rednerbühne für diesen Abend. Der Schweinebauer, der den Protest organisiert hat, stellt sich auf das Brett und ruft: «Ich möchte etwas zu unseren Traktoren sagen. Sie sind unsere Arbeitsgeräte, und die dürfen wir auch zeigen. Selbstverständlich haben wir neue Traktoren. Die sind umweltfreundlicher, lassen nicht so viel Dreck raus und brauchen weniger Diesel. Darum haben wir moderne Traktoren. Nicht aus Freude oder weil wir es lustig finden.»
In den Leserbriefen und Kommentarspalten der Medien stand in den letzten Wochen, so schlecht könne es den Bauern doch gar nicht gehen, wenn sie sich Traktoren für eine Viertelmillion Franken leisten könnten. Das ist wieder so eine Sache, sagen die Bauern, die Leute verstehen uns einfach nicht. Jetzt wollen sie uns auch noch vorschreiben, mit welchen Maschinen wir demonstrieren sollen. Dabei protestieren wir doch schon so rücksichtsvoll, fahren mit den Traktoren rechts raus und lassen die Autos vorbei, um bloss niemanden zu verärgern. Aber irgendwie nützt das alles nichts.
Irgendwann schlägt die Stimmung auf der Wiese in Trotz um.
Ein junger Bauer aus dem Berner Mittelland sagt: «Ich lasse alles in den Boden rein, was möglich ist. Nix Bio, einfach Vollgas! Solange es noch geht.» Lange wird es nicht mehr gehen. Sein Bauernhof, Hanglage, 10 Kühe, 12 Hektaren Land, stehe vor dem Ende. Vor ein paar Tagen zahlte er Rechnungen über 22 500 Franken. Dann war das Konto leer. «Ich müsste viel mehr auf dem Feld sein, bin aber ständig am Computer. Das ist nicht meine Stärke.» Sein Vater und die Freundin, die auf dem Hof mithelfen, seien auch nicht gut «mit Bürozeugs». Und was die in Bern alles wissen wollten! Sogar die Unterhosenfarbe müsse man bekanntgeben, wenn man Geld vom Staat haben wolle.
Die Schweizer Landwirtschaft, das sind nicht nur Kühe, Milch und Güllenfässer. Das sind auch 4000 Seiten voll mit Gesetzen und Verordnungen. Wer etwas von den 2,8 Milliarden Franken Direktzahlungen haben will, muss sich mit viel Papier herumschlagen. Und selbst wenn das Geld aus Bern dann kommt, reicht es vielleicht nicht.
Traurige Geschichten kennen alle, die hier auf der Wiese stehen. Wie die von Peter ausgeht, ist noch ungewiss.
Peter ist 30, kommt aus dem Emmental und übernimmt nächstes Jahr den Bauernhof seines Vaters. «14 Hektaren, 13 Milchkühe, kein Traktor, Emmentalerkäse-Produzent.» Am liebsten würde Peter seine ganze Kraft in den Betrieb investieren, aber er weiss jetzt schon, dass das nicht geht, «unmöglich, ich würde sofort verlumpen». Also muss er weiter als Futtermittelberater arbeiten, zu 70 Prozent. Wenn er dann den Rest seiner Zeit für den Hof einsetzt, zusammen mit allen Ferien und der ganzen Freizeit, «dann komme ich vielleicht irgendwie durch».
Das beschreibt gerade das Lebensgefühl vieler Bauern – irgendwie durchkommen. Irgendwie noch eine Generation schaffen. Sich irgendwie in die Zukunft retten. Und manchmal fragen sie sich, wer ihnen dabei helfen könnte, am ehesten vielleicht der oberste Bauer des Landes, Markus Ritter.
Anfang März sass Bauernpräsident Ritter im Studio des Schweizer Radios und versuchte zu erklären, warum die Bauern jetzt auch bei uns demonstrieren. Ritters Rechnung ist einfach. In den vergangenen zwei Jahren hatten die Bauern Mehrkosten von einer Milliarde Franken, weil vieles teurer wurde, Energie, Maschinen, Dünger. Gleichzeitig nahmen die Landwirte für ihre Produkte 700 Millionen Franken mehr ein. Also bleibt ein Loch von 300 Millionen Franken. Ritters Lösung und die Lösung der Protestbauern: Mehr Geld für ihre Produkte.
Der Bundesrat kommt zu einem anderen Schluss. Die Bauern müssten die 300 Millionen Franken einsparen. In einem Bericht Anfang März schreibt er: «Betriebe am unteren Ende der Einkommensverteilung haben häufig zu viel in Maschinen und Gebäude investiert.» Mit anderen Worten: Die Bauern, die nicht genug verdienen, sind auch selbst daran schuld, weil sie nicht wie Unternehmer denken und die Kosten nicht im Griff haben.
Das ist ein Vorwurf, den die Bauern schon lange hören und der ein altes Problem anspricht. Was sollen sie denn jetzt sein? Unternehmer? Staatsangestellte? Landschaftspfleger? Alles zusammen? Vielleicht demonstrieren die Landwirte auch, weil sie nicht mehr wissen, was die Gesellschaft eigentlich von ihnen will.
Markus Ritter hatte die Proteste nicht kommen sehen. Andere waren nicht so überrascht.
Es gibt zehn Landwirte, die dafür ausgebildet sind, sich die Probleme ihrer Berufskollegen anzuhören. Je öfter das bäuerliche Sorgentelefon klingelt, desto schlechter geht es den Bauern. Das Sorgentelefon gibt es seit 28 Jahren, es wurde gegründet, weil viele Bauern mit der Marktliberalisierung der 1990er Jahre überfordert waren. Seither rufen jedes Jahr durchschnittlich 150 Bäuerinnen und Bauern anonym an, wenn sie nicht mehr weiterwissen.
Aber so viele und so lange Anrufe wie in den letzten Monaten gab es noch nie. Der Präsident des Sorgentelefons, Pfarrer Andri Kober, sagt: «An erster Stelle steht das Finanzielle. Viele Bauern sind überfordert.» Früher dauerten die Gespräche etwa zwanzig Minuten. Während Corona stieg die Dauer auf 28 Minuten. Jetzt sind es zwischen 35 und 45 Minuten. In den vergangenen Wochen kamen teilweise doppelt so viele Anrufe wie üblich.
Die Bauern sind die einzige Branche, die ihr eigenes Sorgentelefon haben. Die Metzgerinnen, die Maurer und die Anwälte rufen bei der Dargebotenen Hand an, wenn sie jemanden zum Reden brauchen. Geht es den Bauern also so viel schlechter, dass sie einen eigenen Anschluss brauchen?
Die Telefonprotokolle lesen sich so:
Bäuerin, 45 Jahre:
«Ich bin mit meinen Kräften am Ende. Seit Jahren halte ich den Betrieb und die Familie zusammen. Ich trage die ganze Verantwortung allein. Mein Mann hat starke Schulter- und Hüftschmerzen, er zieht sich aus allem zurück. Er unternimmt nichts gegen die Schmerzen und geht auch nicht zum Arzt. Einmal hat er schon mit Suizid gedroht. Unsere drei Kinder sind in der Schule und in der Ausbildung, ein Sohn hilft auf dem Hof mit, aber jetzt hat er sich verletzt und fällt sechs Wochen aus. Ich weiss nicht, was ich tun soll.»
Bäuerin, 30 Jahre:
«Unser Hof steckt in finanziellen Schwierigkeiten. Wir sind drei Generationen, meine Schwiegereltern, mein Mann und ich sowie unsere beiden Kinder, 2- und 5-jährig. Obwohl wir vom Morgen bis am Abend arbeiten, reicht das Geld nicht für alle. Meine Schwiegermutter kümmert sich um die Kinder, während ich zwei Tage pro Woche ausserhalb des Hofs in einem Büro arbeite. Auch die Buchhaltung des Betriebs führe ich. Aber wir schaffen es nicht. Kürzlich mussten wir auf unser Erspartes zurückgreifen, um die Zinsen bei der Bank bezahlen zu können. So kann es nicht weitergehen. Es ergibt keinen Sinn, den Hof so weiterzuführen.»
Bauer, 64 Jahre:
«Ich werde demnächst pensioniert und finde keine Lösung für die Zukunft. Ich habe keine Kinder und keinen Nachfolger für den Hof. Es war nicht einfach in den letzten Jahren, ich habe viel Geld in Maschinen und Gebäude investiert, die Verordnungen haben sich ständig verändert, es gab immer mehr Auflagen, das Direktzahlungssystem hat mich belastet. Aber ich habe viel Herzblut in den Betrieb gesteckt, in meine Tiere, in meine Kartoffeln – und das soll nun alles zu Ende sein?»
Ein glücklicher Bauer
Wer wird den Strukturwandel überleben? Einfache Antwort: Der Unternehmer beziehungsweise der Bauer, der seine Kosten im Griff hat. Klingt simpel, aber was heisst das? Und geht das mit dem zusammen, was man von den Landwirten auch noch verlangt: Umweltschutz und Landschaftspflege?
«Habt ihr viel Gejammere gehört? Ja? Es ist schon es huere Gejammere gäng.» Fritz Sahli, 54 Jahre alt, ein Bauer etwas nördlich von Bern, schaut betreten auf den Boden. Es ist nicht so, dass ihn das Gejammere seiner Berufskollegen nervt. Aber es lässt ihn etwas ratlos zurück. Sahli ist kein Jammeri, Sahli macht.
Sahlis Hof ist auf den ersten Blick ein Widerspruch. Er ist profitabel, und er wächst seit Jahren – dabei ist Sahli ein Demeter-Bauer, der mal wie ein Wachstumskritiker, mal wie ein New-Age-Guru klingt. Aber Sahli ist auch ein Händler, der rechnet. Und einer, der sich und seine Geschichte schlau vermarktet.
Wenn die Rede von unternehmerischen Bauern ist, geht es oft um mehr: Auf dem gleichen Raum, der gleichen Fläche, noch mehr produzieren. Sahli sagt: Das ist ein Irrtum. Das ist das Denken der Industrie, die Massenprodukte herstellen will. Und davon muss sich der Bauer lösen.
Sahli bewirtschaftet seinen Hof extensiv statt intensiv. Bei ihm gibt es keinen Kunstdünger, wenige Maschinen, fast kein Korn im Futter für die Tiere und schon gar keine Massenproduktion. Gross ist sein Hof schon: 70 Hektaren betreibt er, die Hälfte ist Land, das er in Pacht hat. Er hat Kühe, Schweine, 1800 Hühner. Und zehn Angestellte.
Dazu kommen zehn Wohnungen im Neubau seines Wirtschaftsgebäudes. Möglich war das, weil sein Hof auf einer Sonderzone steht. Sahli weiss, wie viel Glück er damit hat. «Für diese Umzonung habe ich gekämpft wie ein Löwe. Da waren alle dagegen.»
Dazu kommen ein Café, ein grosser Hofladen, im oberen Stock ein langer Saal, in dem er Gesellschaften mit bis zu 80 Gästen bewirten kann oder am Abend Yogastunden gegeben werden. Zwei Saunawagen hat er unterhalb des Stalls hingestellt, einen Naturteich ausgehoben zum Abkühlen. Und die Dächer der zahlreichen Gebäude sind mit Solarpanels zugepflastert. Der Hof produziert Strom für 100 Haushalte.
Vierzig Prozent seines Einkommens stammen von Wohnungen und Solarstrom – und man könnte jetzt ketzerisch fragen: Ist Sahli überhaupt noch ein Bauer? Aber Sahli findet die Frage falsch gestellt. Er nennt seinen Betrieb ein KMU, «Landwirtschaft mit nachgelagertem Handelsbetrieb». Und er sagt: «Ich mache einfach, was mir Spass macht.» Spass macht ihm, auf seinem Stück Boden eine Welt zu erschaffen, von der er glaubt, dass sie die Zukunft sein könnte. Abgeschaut hat er sich das in der Vergangenheit.
Sahli macht nämlich etwas, das früher ganz normal war. Erstens: Er verkauft fast alles selbst. Mehl an einen lokalen Bäcker, Tiere einzeln an Restaurants, mit den Eiern beliefert er Läden und Restaurants in Bern. So erzielt er einen Preis, der die Produktionskosten eher deckt, als wenn er seine Produkte an einen Zwischenhändler verkauft, der ebenfalls eine Marge erzielen muss.
Natürlich braucht das Zeit. Mehr als die Hälfte seiner Arbeitswoche ist Sahli Verkäufer, sucht Abnehmer für seine Ware, liefert aus, verhandelt über Preise. Das geht, weil er Angestellte auf dem Hof hat. Und weil er den ganzen Betrieb so minimalistisch wie möglich betreibt. Die Kühe fressen draussen Gras, der Stall ist so automatisiert wie möglich. «Der Stall muss für dich arbeiten. Aber unkompliziert. Nicht wie bei den Milchbauern, die zum Beispiel Melkroboter haben und dann an den Anschlag geraten, wenn dieser aussteigt. Wenn dir der Stall Arbeit macht, ist er schlecht gebaut.»
Sahli hat den Hof 1998 von seinem Vater übernommen. Er war dafür eigentlich nicht vorgesehen gewesen. Sein Bruder hätte die Nachfolge antreten sollen, aber der starb, als er 24 alt war. Sahli sprang ein, unter der Bedingung, dass er es «anders machen könne».
Damals gab es schon Biohöfe, aber noch keinen Markt. Coop Naturaplan war erst fünf Jahre alt, also musste Sahli selbst zum Händler werden und Abnehmer für seine Produkte suchen.
Sahli sagt von sich, er sei halt etwas anders, ein Freiheitsfanatiker, «ich war eine Frühgeburt, die müssen strampeln, wollen unabhängig sein». Vielleicht fuhr er deshalb mit dem Velo nach Moskau, als er Anfang zwanzig war. Und vielleicht lehrte ihn auch die Reise in den Osten, was es heisst, in einem System eingesperrt zu sein. «Unseren Bauern hier geht es ja eigentlich heute gleich. Sie haben sich zu Abhängigen der Landwirtschaftsindustrie gemacht.»
In der Landwirtschaftsschule kam Sahli nicht gut an. «Gehirnwäsche», nennt er das, was er dort mitbekam. «Da haben sie mich gequält. War ja gut, dass man Buchhaltung lernt, aber wenn man alles danach ausrichtet, landet man automatisch bei der intensiven Tierzucht und Milchwirtschaft.» Mit seinem Interesse an Biolandbau hatte er einen schweren Stand.
Sahli sieht sich als Generalisten. Das ist denn auch der zweite Schritt seines Zukunftsprojektes: Er will die Vielfalt der alten Bauernhöfe zurückbringen. Nicht nur bei den Produkten. Für ihn gehören dazu auch die Wohnungen, die Energieproduktion, ein Sozialprojekt für lernschwache Jugendliche.
Man könnte das als Abkehr vom Bauern sehen. Aber Sahli sagt: Das alles gehöre zum Bauernhof dazu – so wie er früher existierte. Sowieso, wer einen Bauernhof betreibe, müsse hauptsächlich bauern. Wer wie viele Bauern heute mit einem Nebenjob den Bauernhof quersubventioniere, höre in schweren Zeiten mit dem auf, was am anstrengendsten sei. Und das sei dann das Bauern.
Sahlis Hof ist auch eine Parallelwelt. Kann man das skalieren? Die Frage wird ihm oft gestellt. Er glaubt, dass natürlich nicht jeder Hof nach seinem Rezept geführt werden könne. «Aber man muss für sich einfach herausfinden, was passt. Hier haben wir zum Beispiel den Vorteil, nahe bei der Stadt Bern zu sein. Deshalb geht das mit der Sauna. Man muss sich auf die Menschen ausrichten. Wir sind Dienstleister.»
Auch noch Dienstleister? Die Bauern sollten doch schon die Biodiversität schützen, Lebensmittel produzieren, Unternehmer sein! «Ja, aber das ist unsere Chance. Es gibt so viele Möglichkeiten. Der Beruf Landwirt, das ist eigentlich ein Traumberuf. Und wer das nicht so sieht, muss halt den Job wechseln.»
Sahli hat leicht reden, könnte man einwenden. Ohne die Sonderzone hätte er sein KMU nicht aufbauen können. Er weiss das selbst genau. Und er findet, dass das Bodenrecht, das in der Landwirtschaftszone Gewerbenutzung verbietet, nicht zu sehr aufgeweicht werden dürfe. Aber solange man die Nutzung mit dem Landwirtschaftsbetrieb zusammenbringen könne, sollte man sie auch erlauben. Früher hat man in grösseren Höfen schliesslich auch gelegentlich eine Einliegerwohnung gehabt. Vielleicht müsse man das Konzept des Weilers mit drei oder vier Bauernhöfen an die heutige Zeit anpassen und etwas skalieren.
Für das Unternehmertum à la Sahli muss man aber auch die richtige Grösse haben. Das Land, das Sahli heute bewirtschaftet, waren früher drei Höfe. Sein Biohof ist Produkt des Strukturwandels. Aber ob auf den drei Höfen früher ähnlich viele Menschen bezahlte Arbeit gefunden haben wie auf Sahlis? Sahli sagt: «Der Wandel lässt sich nicht aufhalten. Aber ich glaube, das hier kann überleben. Ein ganzheitlicher Hof, mit geschlossenem Kreislauf, der Menschen dient.» Und dann sagt Sahli: «Aber die nächste Generation wird es anders machen. Vielleicht besser als ich.»
Der Melkroboter
Vielleicht muss eine Geschichte über die Schweizer Bauern mit dem Melkroboter enden. Der Melkroboter steht für vieles, was in der Schweizer Landwirtschaft gerade falsch läuft.
Die meisten Nichtlandwirte denken beim Melkroboter vermutlich ans falsche Gerät. Der Melkroboter ist nämlich keineswegs einfach dieses Bündel aus vier saugnapfähnlichen Röhren, die der Bauer an die Zitzen am Euter ansetzt und damit automatisch die Milch abpumpen lässt. Der Melkroboter ist eine Anlage, welche die Kuh selbständig betritt, mittels Sensoren, die das Euter abtasten, automatisch die sogenannten Zitzenbecher aufgesetzt erhält und dann die Milch abpumpt. Der Bauer muss fast nichts tun. So lautet zumindest das Versprechen der Melkroboterproduzenten.
Die meisten Bauern in der Schweiz haben noch keinen Melkroboter. Aber immer mehr steigen um. Das hat zwei Gründe, und beide sind auch ein Problem.
Natürlich ist der Melkroboter eine riesige Zeitersparnis. Der Landwirt muss nicht mehr am Morgen früh aufstehen und die Zitzenbecher von Hand ansetzen, die Kühe kontrollieren (das macht er dann später und vielleicht, so sagen es manche Landwirte, die einen Melkroboter haben, muss er das sogar häufiger machen als zuvor). Zeit ist für den Landwirt ein rares Gut. Und jede Arbeitsstunde, die er einspart, verbessert seinen Stundenlohn. Vermeintlich.
Das erste Problem: Der Melkroboter ist teuer. Eine Melkanlage kostet in der Anschaffung gut und gerne 200 000 Franken (abgeschrieben über 10 Jahre, macht das 20 000 Franken pro Jahr). Vielleicht muss man im Stall noch etwas umbauen. Und dann sind da die Wartungskosten. Ein Melkroboter sollte immer funktionieren. Sonst haben die Kühe ein Problem. Und damit der Landwirt. Also bezahlt man einen teuren 24-Stunden-Service (Kostenpunkt: 12 000 Franken pro Jahr).
Seit es den Melkroboter gibt, gibt es Diskussionen, für wen sich das teure Gerät lohnt. Landwirtschaftliche Schulen und Forschungsinstitute stellen Berechnungen an und kommen zu unterschiedlichen Zahlen. Klar ist: Unter einer bestimmten Herdengrösse ist der Melkroboter ein Verlustgeschäft. Eine Herdengrösse, die viele Schweizer Betriebe nicht haben.
Die jährlichen Kosten von gut 30 000 Franken muss man nämlich auch noch verdienen – zusätzlich, in der gesparten Zeit. Sonst hat man gar nichts dazugewonnen.
Das zweite Problem: Der Melkroboter ist zwar ein Instrument, das im besten Fall erlaubt, mehr zu produzieren. Nur, wovon? Mehr von etwas, das nach wie vor einen schlechten Preis erzielt.
Trotzdem sind in den letzten Jahren immer mehr Bauern auf den Melkroboter umgestiegen. Ein Bauernberater, der in der Schweiz mehrere tausend Betriebe analysiert und beraten hat, erklärt das so: Zweimal im Jahr zahlt der Bund die Direktzahlungen an die Bauern aus. Dann machten sich auch die Vertreter von Landmaschinenherstellern auf den Weg. Der Bauernberater sagt: «Es ist ein unfaires Spiel. Ein psychologisch geschulter professioneller Verkäufer trifft auf einen einfachen Bauern. Der Bauer fällt sofort um.» Der Bauer könne sich den Melkroboter finanziell gar nicht leisten, aber er ächze unter der Arbeitslast, wolle schon lange nicht mehr melken. Und der Nachbar habe sich kürzlich ebenfalls einen angeschafft. «Also kauft er auch einen.» Bauern sind Herdentiere, meistens jedenfalls.
Der Melkroboter klingt nach einer einfachen Lösung. Aber für viele der 600 Protestbauern, die auf der Wiese bei Bern zusammengekommen sind, ist er keine. Mehr als zwei Stunden stehen sie nun schon auf dem Feld, langsam wird es kalt. Der Schweinebauer, der den Anlass organisiert hat, sagt: «Wenn wir jetzt nach Hause fahren, nehmen wir Rücksicht auf die Autos. Wir verhalten uns anständig auf der Strasse und behindern niemanden. Aber etwas sage auch noch: Wenn unsere Forderungen bis im Herbst nicht erfüllt werden, dann wird der Druck unaufhaltsam steigen.»
Niemand weiss genau, was das bedeutet. Jetzt müssen die Bauern erst einmal auf die Felder. Der Sommer kommt.