In Japan haben sich Tausende Lokale der Ramen-Zubereitung verschrieben. Unser Autor isst nach der Ankunft in Tokio trotzdem stets in der gleichen Nudel-Bar.
Die Engländer hätten das geduldige Warten in der Schlange erfunden, sagt man. Ist aber falsch. Wer einmal in Japan war, erfährt das dort augenblicklich (und ist hoffentlich mit so viel Anstand gesegnet, es den Einheimischen gleichzutun). Ob an der Bushaltestelle, auf dem Shinkansen-Perron oder in der Metro. Wer neu dazukommt, stellt sich schweigend hinten an. Das gilt genau so für die Ramen-Bars. Zumindest für diejenigen, deren Suppenqualität unwiderstehliche Strahlkraft besitzt und die darum pausenlos belagert werden.
Der Hype um die würzige Nudelsuppe schwappte vor einigen Jahren auch durch europäische Metropolen, mittlerweile bereichern etablierte Ramen-Restaurants hier das gängige kulinarische Angebot. Dem Credo für die schnelle (Mittags-)Verpflegung sei Dank.
Doch wie bei allen Food-Exporten, sei es Pasta, Pizza, Pad Thai oder Sushi: Ohne Vergleich mit dem Original taugt ein Urteil über hierzulande Gegessenes nichts.
Ein Besuch in der Karashibi-Miso-Ramen-Bar muss sein
Japan stand schon früh auf meiner Bucketlist. Mein Foodscout-Job half auch, alljährliche Messebesuche in Tokio bedeuteten auch stets, dass ich mich auf die Suche nach den besten Ramen-Bars machte. Eine Suche, die nie enden wird. Denn bei geschätzten 15 000 Lokalen in Tokio, die sich dem Nudelschlürfen verschrieben haben, gehört wohl etwa ein Zehntel davon zu den besten.
Trotz dieser immensen Auswahl treibt mich der Hunger sofort nach Ankunft immer in dasselbe Nudel-Lokal. Und egal, ob um elf Uhr morgens, am Nachmittag oder kurz vor Lokalschluss um neun Uhr dreissig, Menschen warten geduldig am Eingang der Karashibi-Miso-Ramen-Bar in Chiyoda, nur eine Station von der Tokyo Central Station entfernt.
Jeder Ramen-Koch spezialisiert sich in der Regel auf eine Art. Hier ist es Tonkotsu, die eher deftige Brühe aus Schweineknochen und als Alleinstellungsmerkmal Schärfe, die von einer Kara genannten Mischung aus sechs verschiedenen Chilisorten kommt, kombiniert mit einem mit Sichuan-Pfeffer aromatisierten Öl namens Shibi.
Ich schiebe einige Yen-Noten in den neben dem Eingang aufgestellten Automaten und stelle mir auf dem Display meine Suppe zusammen. Natürlich mit Schweinebauch – der hier nicht als mickrige Scheibe in der Suppe schwimmen wird, sondern als bibeldickes Teil mit schmelzend weicher Schwarte – und einer Auswahl an Toppings wie grilliertem Mais, extra Koriander oder einem Onsen-Ei.
Als etwa Zehnter in der Schlange wird es nicht mehr als fünfzehn Minuten dauern, bis mich das Küchenteam hinter der Esstheke mit einem gemeinsam gebrüllten «Irasshaimase» – willkommen – lautstark begrüsst. Ramen essen funktioniert hier nach dem immergleichen Schema: Ticket ziehen – warten – rein und Suppe essen – raus. Kein Japaner kommt auf die Idee, während des Essens zu schwatzen oder nach dem Essen länger zu verweilen, die Suppe wird schweigend, rasch, möglichst heiss und hörbar weggeschlürft.
Ramen essen ist also alles andere als ein sozialer Akt. In sich gekehrt, konzentriert sich jede und jeder auf die Schüssel vor sich, geniesst schweigend und zollt der Küche Tribut, indem er oder sie den Platz rasch wieder frei macht: So verdient der Koch etwas mehr.
Das alles macht die Wartezeit überschaubar. In der Schlange draussen klappert eine Mitarbeiterin die hungrigen Gäste nach ihrer Schärfepräferenz ab und gibt die Info an die Köche drinnen weiter. Ich wähle «medium», als Regular weiss ich, was zu erwarten ist.
Auf was kommt es an bei Ramen?
Das Wichtigste in einer Ramen-Suppe sind natürlich die Brühe und die Nudeln. Beides fabriziert jeder Koch von Grund auf selbst. Schweine- und Hühnerknochen werden mit Gemüse und Gewürzen über Stunden, manchmal Tage gekocht, auch hier gilt: Je länger, desto besser. Der Nudelteig besteht aus Weizen und Wasser, das mit Natrium- und Kaliumkarbonat zu Kansui wird, einer alkalischen Flüssigkeit. Sie macht die Nudeln zäh und elastisch und verhindert ihr Aufweichen in der heissen Brühe.
Ramen sind genauso wenig eine japanische Erfindung wie die Spaghetti eine italienische sind. Alles, was auf Nudeln basiert, kommt ursprünglich aus China. Als sich Japan vor 200 Jahren langsam der restlichen Welt öffnete und grosse Teile Chinas kolonialisierte, übernahm man das Konzept von Nudeln in Brühe und verfeinerte und vervollständigte es zu den heutigen Ramen, mit unzähligen Toppings auf Fleisch-, Fisch- und Gemüsebasis.
Die Brühen sind viel aromatischer und auch dichter als ihre chinesischen Pendants. Viel Umami-Geschmack bringen Dashi, die japanische Grundbouillon, und Katsuobushi, getrocknete Bonitoflocken, sowie eine gehörige Portion Miso, die fermentierte Sojabohnenpaste. Auch diese wird von vielen Ramen-Köchen selber hergestellt, sie unterstützen damit die immense Vielfalt in der Ramen-Landschaft.
Schweinebauch, der sich mit den Stäbchen zerteilen lässt
Kaum habe ich an der Theke Platz genommen – links und rechts von mir wird geschlürft, als wäre es die Henkersmahlzeit –, landet auch schon die dampfende Schale mit der scharfen, fettigen Suppe vor mir.
Ströme von heisser Brühe zirkulieren in der Schüssel, als würde sie noch über einem Brenner köcheln. Ich atme den würzigen Dampf zaghaft ein, aber der Koch besteht darauf, dass ich sofort anfange zu essen. Ich nehme mit meinen Stäbchen ein Bündel Nudeln auf und schlürfe sie lautstark ein, es folgt ein Löffel der kochenden Brühe.
Schwierig, den Schmerz, aber auch das Vergnügen dieses ersten Bissens zu beschreiben. Die Schärfe baut sich kontinuierlich weiter auf, aber der Gaumen gewöhnt sich daran. Der Chashu, der mit Sternanis geschmorte Schweinebauch, ist so zart, er lässt sich mit den Stäbchen zerteilen. Für den letzten Schluck Suppe setze ich die Schüssel an die Lippen, kein Tropfen wird zurückgelassen.
Schnell aufgestanden und raus, Platz machen für den nächsten Gast. Ein lautes «Arigatou Gozaimashita» (herzlichen Dank) begleitet mich, und ich weiss jetzt schon, auch ohne grossen Hunger, dass ich mich bei der nächsten Ramen-Bar in die Warteschlange stellen werde. Auch dort wird es sicher schmecken.
Richard Kägi ist Autor und Foodscout, schreibt Kochbücher und Kolumnen. Seit seiner ersten Japan-Reise ist Japanisch essen hierzulande für ihn eine fast nicht mehr zu bewältigende Herausforderung.