Bei den Parlamentswahlen setzen sich die etablierten Kräfte um den mehrmaligen Regierungschef Bojko Borisow klar durch. Die Hoffnung auf rechtsstaatliche Reformen schwindet. Aussenpolitisch bleibt das Land aber berechenbar.
Im Sommer 2020 gingen in Bulgarien während Monaten Zehntausende von Bürgern auf die Strasse, um gegen die weitverbreitete Korruption und den grossen Einfluss der organisierten Kriminalität auf die Politik zu demonstrieren. Die Proteste führten zum Sturz des langjährigen Regierungschefs Bojko Borisow, der für viele Bulgaren stellvertretend für diese Missstände stand. Aus der Protestbewegung entstanden neue Kräfte, welche die Hoffnung auf einen Wandel der Politik weckten.
Politisch zur Ruhe gekommen ist Bulgarien seither nicht. Das EU- und Nato-Land ist gefangen in einer Dauerschleife aus Wahlen, kurzlebigen Koalitionen, die nach ihrem Scheitern von Übergangsregierungen ersetzt werden, und neuerlichen Wahlen. Gleichzeitig mit den Europawahlen waren die Bulgarinnen und Bulgaren am Sonntag deshalb einmal mehr aufgerufen, ein neues Parlament zu bestellen.
Zwielichtiger Medienmogul
Aus den sechsten nationalen Wahlen innert drei Jahren sind jene Kräfte als Sieger hervorgegangen, gegen die sich die Proteste einst gerichtet hatten. Die konservative Partei Gerb von Bojko Borisow wurde mit knapp 24 Prozent der Stimmen klar stärkste Kraft.
Der wahrscheinlichste Regierungspartner von Gerb, die Bewegung für Rechte und Freiheit (DPS), liegt bei knapp 16 Prozent. Die DPS ist die Partei der türkischen Minderheit. Die nur dem Namen nach liberale Partei ist aber vor allem ein politisches Vehikel des Oligarchen Deljan Pejewski. Der Medienmogul, der selber gar nicht der türkischen Minderheit angehört, ist eine der zwielichtigsten Figuren der bulgarischen Politik. Die USA haben Sanktionen gegen ihn erlassen.
Viele Beobachter schreiben Pejewski mehr reale Macht zu als Borisow. Es gibt auch Gerüchte, dass Borisow erpressbar sei. Während dessen letzter Regierungszeit tauchten Bilder des schlafenden Regierungschefs in seinem Privathaus auf, auf denen neben dem Bett Goldbarren, Geldbündel und eine Pistole zu sehen waren. Die kuriose Episode wurde als Drohgebärde in typischer Mafia-Manier gedeutet.
Reformkräfte brechen ein
Die grosse Verliererin der Wahl ist das Bündnis der beiden Reformparteien Wir setzen den Wandel fort und Demokratisches Bulgarien, PP/DB. Die Reformer waren nach der letzten Wahl eine Zusammenarbeit mit Gerb eingegangen, weil sonst einmal mehr Neuwahlen gedroht hätten.
Obwohl dieser Schritt durchaus staatspolitischer Verantwortung entsprang, sahen viele Anhänger der Reformpartei darin einen Tabubruch. Schliesslich hatten sie einst gegen Borisow demonstriert und dessen Rücktritt gefordert.
PP/DB verlor am Sonntag mehr als ein Drittel seiner Stimmenanteile und liegt fast gleichauf mit Pejweskis DPS und der ultranationalistischen Wiedergeburt. Die russlandfreundliche Partei fordert den Austritt Bulgariens aus der Nato und spricht sich gegen die Einführung des Euro aus.
Im Europaparlament, wohin die Wiedergeburt drei Abgeordnete entsendet, haben sich die bulgarischen Kremlfreunde mehrfach für eine Zusammenarbeit mit der AfD in einer neuen Fraktion am rechten Rand ausgesprochen. Alle Zahlen fussen auf Hochrechnungen. Die endgültigen Ergebnisse werden im Verlauf der Woche bekannt.
Schwierige Regierungsbildung
Die Regierungsbildung dürfte erneut schwierig werden. Gerb und DPS, die bereits vor den Wahlen von einer Zusammenarbeit sprachen, brauchen mindestens einen dritten Partner. Die Reformer werden sich kaum erneut auf ein solches Experiment einlassen erst recht nicht, wenn diesmal auch der Oligarch Pejewski mit am Tisch sitzt.
Die Wiedergeburt kommt wegen aussenpolitischer Differenzen nicht infrage. Auch die Sozialdemokraten, die ebenfalls zu einem versöhnlichen Kurs gegenüber Moskau tendieren, haben eine Zusammenarbeit ausgeschlossen.
Bleiben zwei kleinere Protestparteien. Die eine, Es gibt ein solches Volk des Showmasters Slawi Trifonow, hat sich als chronisch unzuverlässig erwiesen. Die Jungpartei Velitschie (Hoheit, Majestät) ist bisher kaum in Erscheinung getreten, geniesst aber in ähnlichen Kreisen Sympathien wie die ultranationalistische Wiedergeburt.
Prowestlicher Kurs ist ungefährdet
Was dies für die Stabilität der nächsten Regierung bedeutet, ist ungewiss. Für die politische Kultur in Bulgarien und den Kampf für mehr Rechtsstaatlichkeit verheisst diese Konstellation jedoch nichts Gutes. Für Europa wird das Land trotzdem nicht zum Sorgenkind. Borisow und Pejewski verfolgen einen klaren euroatlantischen Kurs und sprechen sich für die Unterstützung der Ukraine aus. Angesichts der grossen Rüstungsindustrie des Landes ist dies nicht unerheblich.
Inwiefern dies politischem Kalkül oder genuiner Überzeugung entspringt, ist umstritten. Fakt ist, dass Borisow durch sein kooperatives Verhalten im europäischen Rat immer grosse Rückendeckung durch die konservative Fraktion und besonders die deutschen Christlichdemokraten genoss. Die rechtsstaatlichen Missstände im Land erhielten deshalb auf europäischer Ebene nie besondere Aufmerksamkeit. Das dürfte so bleiben.
In jenen Kreisen, die vor vier Jahren auf die Strasse gingen, ist die Hoffnung auf wirkliche Veränderungen aber verschwunden. Der Hauptgrund für den Einbruch des Reformlagers war, dass viele seiner Anhänger gar nicht erst zur Wahl gingen. Die Politikverdrossenheit wird immer grösser. Nur knapp jeder dritte Wahlberechtigte gab am Sonntag seine Stimme ab – ein historischer Tiefstand.