Am Putschversuch des Ex-Präsidenten Bolsonaro in Brasilien waren wohl auch hohe Generäle beteiligt. Jetzt ermittelt die Justiz – doch die Beweislage ist dünn. In den Kasernen könnte es zu Unruhen kommen.
Ein Jahr und einen Monat hat es gedauert, bis die brasilianische Justiz gegen die vermeintlichen Drahtzieher des Putschversuchs vom Januar 2023 vorgeht. Nach dem Sturm radikaler Bolsonaro-Anhänger auf das Regierungsviertel wurden bisher nur rund dreissig Randalierer von den damals 2200 Festgenommenen verurteilt. Jetzt hat die Bundespolizei 33 Hausdurchsuchungen und Festnahmen von Militärs und früheren Ministern des Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro durchgeführt. Die Polizei nennt die Operation «Stunde der Wahrheit».
Die Justiz blickt auf Bolsonaros engen Machtzirkel. Dieser umfasst Vier-Sterne-Generäle, Bolsonaros Vizekandidaten und Leiter des Präsidialamts Walter Braga Netto, den früheren Geheimdienstchef Augusto Heleno, den Verteidigungsminister Paulo Nogueira Batista sowie den ehemaligen Justizminister Anderson Torres. Bolsonaro wurde dazu aufgefordert, seinen Pass abzugeben, um eine Flucht ins Ausland zu verhindern.
Das sei eine Operation mit historischen Dimensionen, sagt Carlos Fico, Militärexperte an der Uni von Rio de Janeiro. Nun zeige sich, dass die Militärs in die grösste politische Krise Brasiliens seit vielen Jahren verwickelt seien.
Bolsonaro hat Monate vor der Wahl mit Generälen konspiriert
Der frühere Präsident soll mit seinen Vertrauten bereits Monate vor den Wahlen im Oktober 2022 einen Plan für den Fall der Niederlage ausgearbeitet haben. Dabei sollen sich die Verschwörer auf eine Arbeitsteilung geeinigt haben.
Mit dem Argument des Wahlbetrugs sollten die Wahlen vom Wahlgericht für ungültig erklärt werden. Die von der Regierung unterstützten Proteste der Bolsonaro-Anhänger sollten eine militärische Intervention rechtfertigen und damit den Verbleib Bolsonaros im Präsidentenamt legitimieren.
Eine jetzt veröffentlichte Videoaufnahme zeigt eine geheime Kabinettssitzung Bolsonaros, bei der Bolsonaro im Juli 2022, also mehr als drei Monate vor dem ersten Wahlgang, gegenüber Generälen und Mitstreitern für den Putsch argumentierte. Nur so könne verhindert werden, dass sich Brasilien zu einer linken Diktatur wie Venezuela entwickle, sagte Bolsonaro.
Die Bundespolizei fand zudem eine ausgearbeitete Erklärung, mit der die Machtübernahme der Militärs zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit hätte legitimiert werden sollen. Der Verfassungsrichter Alexandre de Moraes, damals Vorsitzender des Obersten Wahlgerichts, sollte verhaftet werden. Der Geheimdienst verfolgte stündlich, wo sich der Richter aufhielt. Moraes war mit seiner Unerschrockenheit und Zähigkeit entscheidend dafür, dass die Wahlen reibungslos stattfinden konnten.
Die Ereignisse stimmen mit dem Putschplan überein
Tatsächlich stimmen viele Ereignisse vor und nach den Wahlen mit dem Putschplan überein. So verbreitete Bolsonaro Falschinformationen über die Verlässlichkeit der elektronischen Wahlurnen – auch vor ausländischen Botschaftern. Dafür wurde Bolsonaro Mitte letzten Jahres vom Obersten Wahlgericht von künftigen Wahlen ausgeschlossen. Nach den verlorenen Wahlen kam es zu landesweiten Strassensperren durch Bolsonaro-Anhänger.
Die Ermittlung beruht auf Beweismaterial, das bei Oberstleutnant Mauro Cid, dem früheren Adjutanten Bolsonaros, gefunden wurde. Cid soll dem Corona-Impfgegner Bolsonaro zu gefälschten Impfdokumenten verholfen haben. Er wurde auch dabei ertappt, wie er im Auftrag Bolsonaros Juwelen und Uhren verkaufen wollte, die der Präsident als offizielles Präsent von Saudiarabien erhalten hatte. Nach mehreren Monaten in Haft tritt Cid jetzt als Kronzeuge auf. Er hat der Bundespolizei zahlreiche Informationen geliefert, darunter das Video der geheimen Kabinettssitzung.
Dennoch stehen die Ermittlungen juristisch auf einer schwachen Basis. Denn Bolsonaro hat auch öffentlich erklärt, dass das Militär die Regierung übernehmen solle. Die Ermittlungen werden vor allem vom Bundesrichter Moraes vorangetrieben, der als grösster Feind der Anhänger des Ex-Präsidenten auch als Opfer betroffen war. Die Indizien basieren zudem grösstenteils auf der Kronzeugenaussage Cids.
Ist der Putsch gescheitert, weil die Militärs nicht wollten?
Die Parallelen zum gescheiterten Lava-Jato-Korruptionsprozess sind offensichtlich: Auch damals trieb ein einzelner Richter – Sérgio Moro – die Ermittlungen voran. Die Indizien erhielt er von Kronzeugen. Später kam heraus, dass Moro mit der Staatsanwaltschaft und der Polizei zusammengearbeitet hatte. Inzwischen hat das Oberste Gericht alle Urteile kassiert. Einer der ersten Freigesprochenen war Präsident Lula da Silva, der nach einer langen Haftstrafe 2022 kandidierte – und gegen Bolsonaro gewann.
Sollte es zu Prozessen gegen Militärs kommen, werde es politische Spannungen mit der Regierung geben, erwartet der Politologe Carlos Melo von der Universität Insper in São Paulo. Doch es sei höchste Zeit, dass die Militärs Rechenschaft ablegen müssten.
Bisher wurden die Militärs in Brasilien noch nie zur Verantwortung gezogen – auch nicht für die massiven Menschenrechtsverletzungen unter der Militärdiktatur von 1964 bis 1985. Brasiliens Militärangehörige sähen sich selbst als unabhängige Moderatoren, deren Beteiligung an der Politik wegen der Korruption notwendig gewesen sei, sagt der Politologe Eduardo Grinbaum. Mit dem Aufstieg Bolsonaros kamen jedoch Tausende Militärangehörige in die Regierung. Von Unabhängigkeit kann keine Rede mehr sein.