Ein Dokumentarfilm erzählt die zwei Jahre vor der Champions-League-Saison von Union Berlin. Annekatrin Hendel, die Regisseurin von «Union – Die besten aller Tage», zeigt, was die Köpenicker so besonders macht.
Wenn man über die märchenhafte Geschichte von Union Berlin spricht, muss man auch von Urs Fischer reden. Der Zürcher Trainer kam im Sommer 2018 nach Berlin, führte den Klub 2019 in die 1. Bundesliga. Der Klub steigerte sich von Saison zu Saison, bis er sich 2023 gar für die Champions League qualifizierte. Hier endet der Dokumentarfilm der Regisseurin Annekatrin Hendel. Der darauffolgende Absturz in der Bundesliga mündete im November 2023 schliesslich in der Trennung von Fischer.
Was den Dokumentarfilm so wohltuend von anderen Fussball-Dokus abhebt, ist, dass er nicht auf die Helden im Vordergrund fokussiert, sondern den Leuten folgt, die den Verein seit Jahren tragen. Und einem so ein Gefühl vermittelt für einen Klub, der vieles anders macht als die Konkurrenten.
Annekatrin Hendel, Sie sind schon als Kind mit Union in Berührung gekommen, weil Sie in der Nachbarschaft des Stadions aufgewachsen sind. Können Sie sich an die Besuche in der Alten Försterei zu DDR-Zeiten erinnern?
Ich bin am Wald aufgewachsen, an dem die Alte Försterei steht. Und man war in Ostberlin selbstverständlich für Union, weil es noch den BFC Dynamo gab, der als Stasi-Verein galt. Als Kind war ich kein Fussballfan und nicht im Stadion. Aber als Teenager war ich in einen Union-Anhänger verliebt. Der hat mich mitgenommen. Ich kann mich nicht an einzelne Spiele erinnern, aber an die Atmosphäre. Es gab ja kein Stadion wie heute, sondern nur das Spielfeld und ein paar Betonstufen. Dann stand man da mit anderen zusammen, es war eine ganz bröcklige, feuchtfröhliche Sache.
Gibt es denn heute noch etwas von dieser Atmosphäre im Stadion oder im Verein?
Es gibt Menschen, die damals schon da waren, und die bringen diese Atmosphäre ein. Das ist das Besondere an Union: eine gewachsene Verbundenheit. Es wird dort seit über 100 Jahren Fussball gespielt, das hat also auch gar nichts nur mit der DDR zu tun. Es ist ein Arbeiterbezirk, die Leute bringen ein bestimmtes Lebensgefühl mit, man kann es proletarisch nennen. Das gibt es in Deutschland zum Beispiel auch im Ruhrpott. Aber sicher sind die 40 Jahre sozialistischer Versuch nicht spurlos am Stadion an der Alten Försterei vorbeigegangen. Und genau das hat mich interessiert. Nicht im Sinne von Ostalgie oder Retro, sondern im Entbehren eines Stückes Kultur oder Heimat, die eben doch ein bisschen anders war, als wir sie nun seit 34 Jahren in der Bundesrepublik leben.
Was ist das für eine Kultur?
Die hat etwas damit zu tun, wie man miteinander umgeht, wenn man aus einer Welt kommt, wo zum Beispiel Geld und Existenzkampf keine Rolle spielen. Einfacher sagt das vielleicht der Begriff «Kollektiv». Ein Begriff, der mir, die in der DDR gelebt hat, fast zum Hals raushing. Doch heute ist er für mich wichtig, und er drängt sich auf, wenn ich sehe, wie die Leute bei Union zusammenarbeiten. Sie versuchen, ihre Konflikte untereinander zu lösen. Ohne Supervisor, ohne Coach, ohne dass sich ein Berater dazwischenstellt. Da muss man auch nicht immer sofort eine Antwort parat haben, sondern kann dem anderen zuhören.
Man sieht im Film die Menschen viel miteinander reden.
Aber auch mal nichts sagen und nachdenken. Auch in der Chefetage. Das ist der Punkt. Ich führe ja im Film keine Interviews, sondern bin dabei, wenn Entscheidungen getroffen werden. Die Kamera schaut einfach zu.
Heisst das, man kann das Phänomen Union über diese bestimmte Art erklären, miteinander zu arbeiten?
Es ging mir darum, von einem Betrieb zu erzählen, in dem man aufeinander angewiesen ist. Es ist kein Film über Erfolg, sondern über die Arbeit. Ich hätte auch einen Film über eine Werft machen können oder eine Schraubenfabrik.
Und doch haben Sie sich als Nichtfussballfan einen Fussballklub ausgewählt.
Mit dem immer stärkeren Rechtsruck in Deutschland fragen viele: Was ist los mit den Ostdeutschen? Meine Frage war: Über wen oder was kann man erzählen, wenn man an relevante Potenziale von Ostdeutschen denkt. Wo man Kraft und Selbstbewusstsein sieht. Ich will von Menschen aus dem Osten erzählen, die etwas machen, das interessant und, ja, erfolgreich ist. Da bin ich automatisch auf das Phänomen Union gestossen, diesen kleinen Verein im Randbezirk von Berlin, in Köpenick.
Die Belegschaft kommt als verschworene Einheit daher, die sich in einem hohen Mass mit der Arbeit identifiziert. Wird da auch gestritten?
Natürlich. Das gehört ja dazu. Ich will nie eiapopeia erzählen. Oft wird gesagt, es sei so familiär dort. Das würde ich gar nicht sagen. Es ist ein Betrieb, in dem man zusammen hart arbeitet. Alle Kräfte sind auf den nächsten Spieltag gerichtet. Natürlich gibt es da Konflikte. Und die sehen wir auch.
Könnten sich andere Betriebe von der Art, wie bei Union gearbeitet wird, etwas abschauen?
Ich kann nur von mir sprechen: Wenn ich nicht einen tollen Job hätte, würde ich sofort bei Union anfangen wollen. Ich bin auch Leiterin eines Betriebes, einer Filmproduktionsfirma. Ich konnte aus dem Büro des Präsidenten Dirk Zingler tatsächlich viel mitnehmen.
Was denn zum Beispiel?
Dass man den Mitarbeitenden Fragen stellt – und wie. Wie man sich immer wieder neu erfindet. Wie der Präsident die sich stets verändernden Situationen einschätzt, über neue Strukturen nachdenkt und mit seinen Leuten entwickelt. Es ist nicht lange her, dass sie in der 2. Bundesliga gespielt haben. Wie mit dem irren Wachstum, den immer wieder neuen Anforderungen umgehen? Bis so ein Verein bereit ist für die Champions League, erfordert das unglaublich viele Umstellungen. Zu sehen, wie flexibel und klug der Präsident mit seinen Leuten entscheidet – da können viele etwas mitnehmen.
Sie erwähnen den Präsidenten Dirk Zingler, Ihre Hauptpersonen sind jedoch vor allem Frauen, die im Fussball sonst untervertreten sind. Haben Sie das bewusst so gemacht?
Die Frauen arbeiten dort ganz selbstverständlich in dieser Männerdomäne. Mich hat erstaunt, wie viel Entscheidungsfreiheit sie haben, dass sie an vielen Schlüsselstellen arbeiten. Ich musste die Frauen nicht suchen. Es gibt auch keine Quote oder so etwas, die Frauen haben dort tatsächlich was zu melden – manchmal mehr, als man denkt.
Es gibt viele Klischees über Fussballer: Alle haben eine grosse Karre, schmeissen mit Geld um sich, sind oberflächlich. Sie waren nahe dran. Was haben Sie bestätigt gesehen?
Die Spieler kommen und gehen, sie verdienen viel Geld. Das erzählt auch unser Film. Aber auch davon, wie kompliziert es ist für einen kleineren Verein, dass sie oft schnell wieder weggekauft werden. Ich sehe in den Spielern einfach junge Männer, denen viel abverlangt wird. Ob sie dann vor den Mikrofonen der Sportreporter schlaue Sachen sagen, hat mich nicht so interessiert. Man sieht im Film aber, wie hart sie trainieren, wie sie Dinge machen müssen, die ich in der Sportstunde nicht mochte. Und manchmal kommen wir dann auch ins Gespräch dabei.
Wie ist Urs Fischer, damals Schweizer Trainer bei Union, Ihrem Projekt begegnet?
Ihm habe ich sehr früh von dieser Vorstellung erzählt, dass mich vor allem die Leute interessieren, die bleiben, den Betrieb am Laufen halten und die nicht unbedingt im Rampenlicht stehen. Schon während der Conference-League-Saison, auf der ersten Reise, die ich mitgemacht habe, in Haifa vor dem Hotel. Er fand es gut.
Und wie haben Sie ihn erlebt?
Ich habe ihn als Menschen erlebt, der immer auf den Punkt konzentriert gearbeitet hat, als absolut auf Fussball fokussierten Macher. Er hat diese Mannschaft in einer strengen und klaren Art geführt. Von Urs Fischer weiss ich, dass die Mannschaft ihre Probleme untereinander regeln soll. Die Kabine gehört den Spielern. Damit war dann auch für mich klar, dass ich dort nichts zu suchen habe. Wir waren mit der Kamera mal da, wenn gefeiert wurde, aber nicht im Alltag. Ich habe von Urs Fischer den Respekt vor der Mannschaft und der Eigenständigkeit der Leute aufgenommen. Und noch viel mehr.
Erzählen Sie.
Ruhe, Besonnenheit, Bodenständigkeit, Zurückhaltung sind so Tugenden. Auch sein Platz im Film, seine Rolle ist recht still, aber natürlich gewaltig. Er steht einfach über allem. Man sieht im Film, was er der Mannschaft, den Mitarbeitenden, dem Verein gegeben hat. Wie die Leute ihn lieben.
Und trotzdem ist es mit ihm zu einem Ende gekommen.
Alle im Verein haben am Limit gearbeitet, immer auf Höchstleistung gepolt. Man läuft, so schnell man kann, solange man kann. Aber man kann nicht ewig so schnell laufen. Irgendwann musste das kippen. Das war immer allen klar, so mein Eindruck. Und das ist in der ersten Hälfte dieser Saison eben passiert. Dirk Zingler wurde jetzt gerade in einem Interview gefragt, ob es eine gute Entscheidung gewesen sei, sich von Urs Fischer zu lösen, und da hat er gesagt: «Eine gute Entscheidung war es nicht, aber es war die richtige.»
Hat Fischer den Film gesehen?
Die Premiere hat ja in Berlin stattgefunden. Mit der jetzigen Mannschaft und dem neuen Trainer. Da wollte er vielleicht die Kreise nicht stören.
Sie haben Union in den Zeiten des grössten Erfolgs begleitet. Wie hat dieser den Klub verändert?
Als ich angefangen habe, war mein Ziel, in den Maschinenraum des Klubs zu gucken. Aber ich wollte auch wissen, wie es sich verhält mit dem Spagat zwischen dem Realitätssinn dieses legendären Arbeitervereins und dem enormen kommerziellen Wachstum, dem Umgang mit den «Business-Aussichten» des Vereins. Die Anforderungen ändern sich ja ständig. Die Unioner machen augenscheinlich vieles anders als andere Vereine. Es hat lange gedauert, bis der Verein aus der Niedlichkeitsecke herausgekommen ist, als Teil des deutschen Profifussballs ernst genommen wurde. Dann ist er gefährlich geworden als Wettbewerber um Geld, Aufmerksamkeit und Platzierungen. Aber die Menschen, die den Verein tragen, sind die geblieben, die sie waren. Es sind nur viele Menschen dazugekommen. Damit muss man auch umgehen.
Dass sich Union seine Identität bewahren konnte, hat mit der Bodenhaftung zu tun?
Ich weiss nicht, ob das Wort «Bodenhaftung» wirklich richtig ist. So wird es immer gesagt. Ich würde es eine bestimmte Art von Arbeitskultur nennen. Dass man sagt: «Wir machen das jetzt hier zusammen.» Für mich ist dies das grösste Geheimnis. Der Präsident Zingler spricht es im Film aus: «Solidarität hat uns hierhin gebracht. Und so müssen wir weitermachen.»
Arbeitskultur ist das eine. Worauf gründet die Identität denn noch?
Was könnte stärker sein, als aus einem Land zu kommen, das es nicht mehr gibt? Wir, die aus der DDR kommen, haben etwas erlebt und wissen etwas, das andere nicht wissen. Das macht uns stark. Identität hat ja auch ganz viel mit Gefühlen zu tun und ist oft nur ganz schwer in Worte zu fassen. Das kann Film. Gefühle zulassen. Nach der Premiere des Union-Films sind Leute auf mich zugekommen und haben gesagt: «Das gibt es noch.» Darüber wurde dann viel gesprochen. Sie meinten wohl, dass sie im Film etwas gesehen haben, was sie vermissen.
Was haben die zwei Jahre mit Ihnen gemacht? Sind Sie jetzt Fussballfan?
Ich bin ja durch Geburt Unionerin, ohne Fussballfan zu sein. Aber am meisten überraschte mich, dass die Begegnungen der Menschen untereinander im Stadion oft wichtiger sind als die Spiele selbst. Was der Sport für Brücken bauen kann. Was für eine Möglichkeit, Grenzen zwischen unseren sich immer fester zurrenden gesellschaftlichen «Blasen» fast mühelos zu sprengen.
Sie sehen den Fussball heute anders.
Ja, vor allem die gesellschaftliche Dimension, die der Fussball hat. Er ist einer der wenigen Orte, wo Menschen zusammenkommen, die sonst nichts miteinander zu tun haben. Kino ist auch so ein Ort. Aber da gehen nicht alle hin. Zum Fussball aber schon: die Arbeitslose, der Richter, die Ärztin, der Sehbehinderte. Was man sich heute an Diversität oder Inklusion wünscht, findet jedes Wochenende im Fussballstadion statt.
Der Film heisst «Die besten aller Tage». Welches waren denn nun die besten Tage?
Im Titel steckt ja auch das Wort «Alltag». Davon erzählt der Film. Steffi, die in der Vertriebskommunikation arbeitet, sagt: «Es ist egal, ob wir gewinnen oder verlieren . . .» Und das erleben wir im Film mit. Wir sehen auch Spiele, die verlorengehen. Das ist es, was Union ausmacht: dass mit Problemen und Konflikten umgegangen wird. Da kann auch ein schwieriger Tag der beste aller Tage sein.
Von Rammstein zu Union
Die Berlinerin Annekatrin Hendel ist Produzentin für Spiel- und Dokumentarfilme, Regisseurin und Geschäftsführerin ihrer Firma It Works! Medien GmbH. Sie hat unter anderem Dokumentarfilme über Rainer Werner Fassbinder oder Flake, Keyboarder der Band Rammstein, gedreht. Zudem ist Hendel Mitglied der Deutschen Filmakademie. «Union – Die besten aller Tage» läuft derzeit in deutschen Kinos, am 28. April wird der Film im Arena Sihlcity in Zürich gezeigt.