Die EU findet, dass der Rechtsstaat in Polen nicht mehr bedroht sei, und lässt deswegen ein Strafverfahren fallen. Allerdings hat sich bisher wenig verändert in Warschau. Das zeigt, wie strategisch die Brüsseler Kommission in Wahrheit tickt.
Donald Tusk strahlte vor Freude. «Wir haben es!», jubelte der polnische Ministerpräsident Ende Februar. Das war, als die Europäische Kommission angekündigt hatte, 137 Milliarden Euro an EU-Mitteln zu entsperren, die dem Land lange verweigert worden waren. Eine erste Tranche in Höhe von 6,3 Milliarden Euro floss im April nach Warschau.
Und jetzt, Ende Mai, hat die EU auch noch das sogenannte Artikel-7-Verfahren gegen Polen eingestellt – ein Sanktionsmittel, das eingesetzt werden kann, wenn ein Mitgliedsstaat im Verdacht steht, gemeinsame Werte zu verletzen. «Wir sind der Auffassung, dass keine eindeutige Gefahr eines schwerwiegenden Verstosses gegen die Rechtsstaatlichkeit mehr besteht», sagte Vera Jourova, die zuständige Kommissarin.
Blindes Vertrauen in Tusk
Polen ist also auf ganzer Linie rehabilitiert. Es ist nicht mehr das schwarze Schaf, das es in den Augen der Kommission über Jahre war. In Brüssel findet man, dass die im Herbst gewählte Bürgerkoalition von Tusk für den Moment alles getan hat, um die Justizreformen der nationalkonservativen Vorgängerregierung rückgängig zu machen.
Dabei ist das Land, sieben Monate nach dem Machtwechsel, in Wahrheit nicht viel rechtsstaatlicher geworden, als es das unter der PiS-Regierung war. Der umstrittene Verfassungsgerichtshof arbeitet immer noch. Ein Gesetz, mit dem Tusk die Unabhängigkeit der staatlichen Medien wiederherstellen will, erklärten die Richter erst kürzlich für rechtswidrig.
Ohne eine Verfassungsänderung, für die eine Zweidrittelmehrheit im Parlament nötig wäre, lässt sich der Gerichtshof nicht umbauen. Doch die ist wegen des Widerstandes der Nationalkonservativen nicht in Sicht. Überhaupt blockiert Andrzej Duda, der PiS-hörige Präsident, derzeit mit seiner Vetomacht jedes wichtige Gesetzesvorhaben.
Polen mag liberaler geworden sein. Doch die Gründe, die 2017 dazu führten, dass die EU-Kommission erstmals ein Artikel-7-Verfahren in die Wege leitete, sind nicht aus der Welt. Warum verlässt sich die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dennoch blind auf das «Reparaturpaket» und die grossen Versprechen aus Warschau?
Das ist schnell beantwortet: Die Deutsche will eine EU-freundliche Regierung belohnen und eine Botschaft an andere Mitgliedstaaten senden, in denen der Rechtsstaat unter die Räder zu geraten droht. Von der Leyen weiss auch, dass Polen kein Kleinstaat ist und geopolitisches Gewicht hat. Darüber hinaus ist Tusk ein wichtiger Verbündeter für sie, wenn sie im Sommer als Kommissionschefin wiedergewählt werden will und dafür möglichst viele Regierungschefs hinter sich bringen muss.
Keine objektiven Massstäbe
Es sind also in erster Linie strategische und machtpolitische Motive, die von der Leyen dazu verleiten, Vorschusslorbeeren zu verteilen und so zu tun, als sei Polen wieder ein Rechtsstaat. Ihrem eigenen Anspruch, objektiv EU-Recht zu schützen und nicht parteipolitisch zu agieren, wird die Kommission damit aber nicht gerecht.
Mehr noch: Die Brüsseler Behörde gibt ihren schärfsten Kritikern recht, die schon immer mutmassten, dass bei der Rechtsstaatlichkeit letztlich mit zweierlei Mass gemessen wird. Warum gelten bei einer politisch genehmeren Regierung andere Kriterien, wenn sich im Vergleich zu den Vorgängern formal nichts geändert hat?
Bezeichnenderweise war es Ungarn, das vergangene Woche als einziges Mitgliedsland gegen den Vorstoss, das Artikel-7-Verfahren gegen Polen fallenzulassen, votierte. Auch Ungarn ist wegen der Verletzung von Grundrechten mit demselben Strafverfahren belegt und will darin ein «Werkzeug politischer Erpressung» erkennen. Dabei gab die Kommission auch schon im Falle Ungarns Ende 2023 zurückgehaltene Gelder frei; nicht etwa, weil Budapest die rechtlichen Kriterien erfüllte, sondern weil es von der Leyen politisch opportun erschien.