Europas Volkswirtschaften waren Profiteure der Globalisierung. Jetzt müssen sie sich – besonders Deutschland – auf eine neue Weltordnung einstellen. Um nicht zu verlieren, muss Europa entschlossen handeln.
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Während die Handelskonflikte zunehmen und die Ära der Globalisierung einer fragmentierten und umkämpfteren Welt weicht, ist es verlockend, das sich verschiebende Gleichgewicht im Welthandel ausschliesslich durch die Linse der Rivalität zwischen den USA und China zu betrachten.
Doch diese Sichtweise ist unvollständig. Nicht nur Washington und Peking müssen sich an eine veränderte Weltordnung anpassen. Auch Europa, einer der grössten Profiteure der letzten vier Jahrzehnte der Globalisierung, steht vor einer grossen Herausforderung.
Seit den späten 1970er-Jahren beruhte das globale Handelssystem auf einer bestimmten Architektur: Eine kleine Gruppe von Ländern – primär die USA, das Vereinigte Königreich und Kanada – nahm anhaltende Handelsdefizite in Kauf, damit andere – China, Deutschland, Japan, Südkorea – grosse, strukturelle Überschüsse erzielen konnten. Diese Überschuss-Volkswirtschaften unterdrückten systematisch ihren Binnenkonsum zugunsten eines exportgetriebenen Wachstums, indem sie Instrumente wie niedrige Löhne, unterbewertete Währungen und Industriepolitik einsetzten, um ihre Produktion zu stärken.
Da diese Instrumente die Inlandsnachfrage dämpfen, müssen die daraus resultierenden Produktionsüberschüsse ins Ausland abgeführt werden. Schliesslich gilt: Wenn einige Länder mehr produzieren als sie konsumieren, müssen andere mehr konsumieren als sie produzieren.
Letztere Länder waren vor allem die USA und ihre angelsächsischen Partner. Mit liquiden, flexiblen Finanzmärkten und offenen Grenzen für Kapital wurden die USA, das Vereinigte Königreich und Kanada zu den natürlichen Zielorten für die Ersparnisse der Überschussländer. Hunderte Milliarden Dollar an ausländischem Kapital flossen in ihre Volkswirtschaften, ihre Währungen werteten auf, und ihre Handelsdefizite wurden grösser.
Die Vorteile dieses Systems – billige Importe, reichlich Kapital – waren real, aber ebenso die Kosten: Deindustrialisierung, Ungleichheit, steigende Haushalts- und Staatsverschuldung.
Diese Ära geht nun zu Ende.
Abkehr von der traditionellen Rolle Amerikas
Sowohl unter der Trump- als auch unter der Biden-Regierung haben die USA deutlich gemacht, dass sie ihr Handelsdefizit verringern, ihre Wirtschaft ausbalancieren und ihre Industrieproduktion wiederbeleben wollen. Dieser Wandel geht über Zölle hinaus; er stellt eine Abkehr von der traditionellen Rolle Amerikas als «Konsument letzter Instanz» der Welt dar. Wenn Washington beginnt, sich gegen das Aufnehmen fremder Überschüsse zu wehren, hat das tiefgreifende Folgen – besonders für Europa.
Handel muss auf globaler Ebene ausgeglichen sein. Wenn die USA ihr Defizit verringern, müssen Überschussländer ihre Überschüsse abbauen oder neue Defizitländer finden. Beides ist nicht einfach. In den europäischen und ostasiatischen Volkswirtschaften sind die Überschüsse struktureller Natur. Sie beruhen auf gedrückten Löhnen, Exportabhängigkeit und schwachem Binnenkonsum. Ein Ausgleich erfordert schmerzhafte Veränderungen: Reformen der Arbeitsmärkte, eine Neuausrichtung der Fiskalpolitik und vor allem eine Umverteilung der Einkommen vom Unternehmenssektor hin zu den privaten Haushalten.
China ist ein Paradebeispiel. Seit dem Platzen der chinesischen Immobilienblase setzt Peking verstärkt auf Exporte, um das Wachstum zu stützen. Doch wenn Washington dem entgegentritt, muss Chinas Produktionsüberschuss anderswo abgesetzt werden.
Europa droht zur Knautschzone zu werden
Das stellt die EU, besonders exportorientierte Länder wie Deutschland, vor ein Dilemma. Europa gerät zwischen die Fronten: einerseits ein Amerika, das die heimische Produktion wiederbeleben will, und andererseits ein China, das zur Wahrung der innenpolitischen Stabilität seinen Exportüberschuss aufrechterhalten muss.
Ohne eine koordinierte und strategische Antwort droht Europa, zur Knautschzone für die weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte zu werden.
Bisher fiel Europas Reaktion unzureichend aus. Gegenzölle und das Gerede von «strategischer Autonomie» mögen innenpolitischen Druck mindern, ersetzen aber keine Neuausrichtung der wirtschaftlichen Strategie.
Was Europa braucht, ist eine klare und bewusste Stärkung der Binnennachfrage.
Das ist leichter gesagt als getan. Japans Erfahrungen seit 1990 sollten eine Warnung sein: Eine Wirtschaft von Exporten hin zum Konsum umzustellen, ist schwierig – besonders dann, wenn grosse Teile der politischen Ökonomie vom Status quo profitieren. Bemerkenswert ist, dass es in Japan zwei Jahrzehnte dauerte, um den Anteil des Konsums am Bruttoinlandprodukt um zehn Prozentpunkte zu erhöhen – während gleichzeitig der Anteil der Industrieproduktion am BIP um sieben Prozentpunkte fiel. Das war kein Zufall. In Japan, wie auch in Deutschland oder China, ist schwache Binnennachfrage die Kehrseite einer wettbewerbsfähigen Industrie.
Für Deutschland würde eine stärkere Ausrichtung auf den Konsum höhere Löhne, mehr öffentliche Investitionen und einen grösseren Anteil der Haushaltseinkommen bedeuten – all das könnte kurzfristig die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie schwächen. Gerade diese politische Ökonomie des exportgetriebenen Wachstums macht eine Neuausrichtung so schwierig.
Tiefere Integration und bessere Koordination der Fiskalpolitik
Dennoch hat Europa womöglich mehr Handlungsspielraum, als es denkt. Ein gut konzipiertes öffentliches Investitionsprogramm – etwa in den Bereichen Infrastruktur, Energie und digitale Modernisierung – könnte die Inlandsnachfrage steigern, ohne die Aussenhandelsfähigkeit zu gefährden.
Grundsätzlicher aber muss Europa entscheiden, welche Rolle es in der neuen globalen Ordnung einnehmen will. In Brüssel spricht man davon, Europa zu einem «dritten Pol» in einer bipolaren Welt aus USA und China zu machen. Doch ohne tiefere politische Integration und bessere Koordination der fiskal- und industriepolitischen Massnahmen droht dieses Ziel leer zu bleiben. Europa könnte am Ende gar kein eigenständiger Pol werden, sondern lediglich ein Stossdämpfer – gezwungen, sich den Entscheidungen anderer zu beugen, ohne selbst Einfluss zu nehmen.
Das nächste Jahrzehnt wird keine blosse Fortsetzung der vergangenen Jahrzehnte sein. Das globale Handelssystem tritt in eine Phase strategischen Wettbewerbs und erhöhter Volatilität ein. Handels- und Kapitalströme werden zunehmend umkämpft und politisiert.
In dieser Welt muss Europa entschlossen handeln. Andernfalls könnte es die Kosten einer globalen Anpassung tragen, die es weder gewollt hat noch kontrollieren kann.
Michael Pettis
Michael Pettis ist Professor für Finanztheorie an der Guanghua School of Management an der Peking University. Der Amerikaner lebt seit 2002 in China. Vor seinem Eintritt in die akademische Welt war Pettis ein Banker; er arbeitete für Bear Stearns und CSFB als Spezialist für Emerging Markets. Pettis ist Autor mehrerer Bücher, sein letztes ist «Trade Wars Are Class Wars: How Rising Inequality Distorts the Global Economy and Threatens International Peace».