Mit Zäunen und Hunden versuchen Landwirte ihre Ziegen und Rinder vor dem Raubtier zu schützen. Das bringt sie in den Clinch mit den Bedürfnissen der Wanderer.
Tief im Schwarzwald wird es bunt. Auf einer Lichtung im Windbergtal steht das silbergraue Gerippe einer abgestorbenen Fichte. Das Gras kämpft um seine Farbe. Stellenweise hat die Sonne es sandfarben gedörrt. Wo der kleine Bach durch eine Senke in der Wiese läuft, bleibt es grün. Braune Punkte sprenkeln die Landschaft: sechs Dutzend Bunte Deutsche Edelziegen.
Ihre einsame Weide liegt in einem Hochtal, ringsum von dichtem Wald umgeben. Ein idyllisches Bild, doch das trügt. Der Bauer zeigt mit ausgestrecktem Arm auf den Punkt, wo der Bach zwischen den Fichten verschwindet. «Dort steht die Kamera», sagt er, «die das Bild vom ersten Wolfspaar aufgenommen hat.»
Das war im Winter 2023. Bis dahin waren drei einsame Wolfsrüden durch den Schwarzwald gestreunt. Sie stammen möglicherweise aus den Alpen oder aus Niedersachsen. Als sich eine Fähe zu einem von ihnen gesellte, nahm die Natur ihren Lauf. Im Frühjahr kamen die ersten Welpen zur Welt. Jetzt wachsen sie im Südschwarzwald heran, irgendwo zwischen St. Blasien und dem Schluchsee. Wie viele es sind, weiss der Bauer nicht, bei unserem Besuch auf seinem Hof ist erst ein Jungtier in die Fotofalle getappt.
Die ersten Wölfe im Schwarzwald, seit der Mensch sie hier im 19. Jahrhundert ausgerottet hat – für den Artenschutz ein Erfolg. Aber wie auch in der Schweiz freut sich nicht jedermann über das Auftauchen des Raubtiers, das Landwirten und Touristen vor ganz unterschiedliche Schwierigkeiten stellt.
Holger Albrecht bewirtschaftet mit seiner Frau Martina den Windberghof, der seit dem 16. Jahrhundert einsam am oberen Ende eines Tals auf 900 Metern Höhe liegt und so typisch ist für eine Region, in der Wanderer den Kopf auslüften. Die Albrechts halten Ziegen und ein halbes Dutzend Rinder. Ausserdem stehen fünf Ardenner-Pferde im Stall. Die Kaltblüter ziehen mit ihren kräftigen Beinen Pflug und Wagen.
Ein Wolf frisst täglich drei bis fünf Kilo Fleisch. Im Sommer sind die Ziegen des Windberghofs Tag und Nacht draussen. Der Elektrozaun bildet kein unüberwindliches Hindernis. Ist die Weide ein üppiges Buffet für das Rudel?
Filmkulisse mit wollweissen Herdenschutzhunden
Der Bauer Albrecht gibt sich entspannt. Das liegt an den zwei wollweissen Klecksen in der Landschaft. Sie heissen Lori und Buffo, sind Herdenschutzhunde der Rasse Maremmano-Abruzzese. «Weil sie da sind, kann ich nachts gut schlafen», sagt Holger Albrecht.
2003 kaufte er den heruntergewirtschafteten Windberghof zu einem Preis, für den in einer Stadt keine Zweizimmerwohnung zu kriegen wäre, und brachte den Schwarzwaldhof wieder in einen Zustand, in dem er als Filmkulisse taugt. 2016 wurde hier «Das kalte Herz» verfilmt, das Schwarzwaldmärchen, das vom Raubbau an den Tannen dieses Gebirges erzählt. Moritz Bleibtreu spielt einen Flösser, der im Holzrausch reich und roh wurde.
Die Fassade des Windberghofs mit den Holzschindeln und den Sprossenfenstern, die Geranien und Bienenkörbe gaben ein perfektes Bild ab. An einer Stelle musste allerdings der Computer helfen. Das riesige Dach, das jeden Schwarzwaldhof prägt, wurde von den Vorbesitzern mit Eternit gedeckt. Daraus hat das Filmteam mithilfe des Computers ein Strohdach gemacht.
Das Rotwild rennt die Zäune nieder
Was Holger Albrecht Schwierigkeiten bereitete, als er den Hof übernahm, waren die Hirsche. «Sie rannten mir die Zäune nieder, danach musste ich meine Ziegen mühsam im Wald suchen.» So kam er vor zehn Jahren auf die Idee mit den Herdenschutzhunden.
Damals streifte noch kein Wolf durch den Schwarzwald. Seit 1866 war das Raubtier hier ausgestorben. 1992 stellte die Europäische Union den Wolf unter Schutz. Kein Jäger darf ihn schiessen. Erst wenn einer nachweislich zweimal ein Nutztier gerissen hat, kann er entnommen werden, so die euphemistische Umschreibung der Juristen für den Todesschuss.
In der Schweiz leben derzeit etwa 240 Wölfe. Abschüsse von Wölfen und Rudeln sind möglich, wenn sie trotz Herdenschutz Schäden verursachen. Das neue Jagdgesetz von 2023 erlaubt den Kantonen aber auch, unter bestimmten Bedingungen in den Wolfsbestand einzugreifen. Bei nachweisbarer Gefahr dürfen die Kantone ganze Rudel erlegen. Ein Paradigmawechsel: Hab und Gut schützen steht jetzt über dem Schutz des Wolfs.
Holger Albrecht krault das Fell von Lori: «Diese archaischen Hunde sind das Bindeglied zwischen Natur und Gesellschaft. Über Jahrhunderte haben sie den Bauern Wohlstand ermöglicht.» Über den Naturschutzbund bekam er einen Kontakt in die Schweiz, wo der Wolf schon ab den 1990er Jahren gesichtet wurde. Als er 2001 die ersten Ziegen riss, begann der Bauer und Tierarzt Alberto Stern aus Graubünden, Herdenschutzhunde zu züchten.
Wanderer dringen aus Sicht der Schutzhunde in ihr Gebiet ein
Diese darf man nicht mit einem Hirtenhund verwechseln. Denn ein solcher wartet auf Befehle des Schäfers. Ein Schutzhund hingegen trifft eigene Entscheidungen, sobald seine Herde in Gefahr gerät. Das zeigt sich, als eine Gruppe Wanderer die Weide am Windberghof passiert: Buffo bleibt bei den Ziegen, Lori rennt zum Zaun, um die vermeintlichen Eindringlinge zu stellen. Sobald er erkennt, dass diese friedlich ausserhalb des Pferchs weitergehen, hört er zu bellen auf.
In der Schweiz kamen nicht immer alle Wanderer so glimpflich davon. Auf den nicht eingezäunten bündnerischen Schafalpen schnappten Schutzhunde im Corona-Sommer 2020 nach 26 Touristen. Diese kamen mit blauen Flecken davon, Bisswunden wurden nicht registriert.
In der Schweiz sind rund 300 Schutzhunde im Einsatz. Das Bundesamt für Umweltschutz hat eine 100 Seiten dicke «Vollzugshilfe Herdenschutz» erarbeitet, deren Bedingungen müssen die Schweizer Schutzhunde erfüllen. Zudem unterstützt der Bund geeignete Herdenschutzhunde und Elektrozäune im Moment noch finanziell. Die weitere Unterstützung von Zuchtprogrammen durch den Bund ist jedoch infrage gestellt und soll durch die Kantone übernommen werden. Bei gut geschützten Herden bekommt der Wolf nur selten die Gelegenheit, ein Nutztier zu reissen. Herdenschutzhunde senken das Risiko eines Risses nachweislich, schliessen ihn aber nicht aus.
Im Schwarzwald gehört Holger Albrecht zu den Pionieren. Für einen Hund erhält der Bauer von der Landesregierung 1900 Euro im Jahr, maximal vier Hunde pro Hof werden gefördert. Auf der benachbarten Weide mit den jungen Ziegen liegen Nanuk und Isolde im Schatten eines Bergahorns. Sie sind drei Monate alt und stammen aus der eigenen Zucht. Sechs Welpen hat Albrecht in die Schweiz verkauft, Nanuk und Isolde bildet er für den eigenen Hof aus. Eine Stunde am Tag arbeitet er mit ihnen. Führt sie in den Wald, damit sie dort keine Angst haben. Wenn die Ziegen zum Melken in den Stall getrieben werden, müssen die Hunde lernen, keine Wanderer anzugreifen, die zufällig des Wegs kommen.
Zäune halten Touristen fern
Das Land Baden-Württemberg setzt gegen den Wolf vorrangig auf Elektrozäune. Meinrad Joos sieht das kritisch. Der Präsident des Schwarzwaldvereins in Freiburg sagt: «Die Offenhaltung der Kulturlandschaft hat Vorrang vor dem Schutz vor einem Problemtier.» Meinrad Joos sieht den Tourismus in Gefahr: Wenn sich Wanderer und Natursportler überwiegend zwischen Zäunen bewegen müssen, verbringen sie ihre Ferien lieber woanders.
Die Milch der Ziegen auf dem Windberghof wird zu Käse und Quark verarbeitet. Diese Produkte in zertifizierter Bioqualität verkauft die Familie Albrecht auf dem Wochenmarkt in St. Blasien. Das Flüsschen Alb plätschert durch diesen traditionellen Kurort, der im Schatten eines kuriosen Bauwerks liegt: Mitten im engen Schwarzwaldtal erhebt sich ein mächtiger Dom mit einer runden Kuppel. Im Zeitalter des Absolutismus nahm sich der Fürstabt Martin Gerber den Petersdom in Rom zum Vorbild und liess diese Kirche errichten, die grotesk die Dimensionen sprengt.
Ein Wolf legt in einer Nacht bis zu 70 Kilometer zurück. Vom Windberghof über das Albtal ist es für ihn ein Spaziergang auf die sonnige Hochebene des Hotzenwalds. Für Menschen führt bei Höchenschwand eine Panoramastrasse über dieses Plateau, das der südliche Schwarzwald bildet, bevor er steil zum Rhein abfällt. Wenn die Rinder des Käppelehofs wollten, könnten sie die Aussicht geniessen. Im Süden ragen die schneebedeckten Berge der Schweizer Alpen in den Horizont.
Drei Dutzend Kühe stehen im offenen Stall. Dort ist es heiss, aber immerhin schattig. Hilflos schlagen die Kühe mit ihren Schwänzen nach Insekten, die sie piesacken. Annabell hat es besonders schwer. An der linken Hüfte hat sie eine offene Wunde. Fleischfarben, gross wie eine Männerhand. Der Schorf zieht Hunderte von Fliegen an.
Im Winter war das Wetter gut, deshalb liess der Bauer Robin Vogelbacher die Herde so lange wie möglich auf der Weide. Am letzten Tag, bevor er sie in den Stall holen wollte, wirkte Annabell verstört. «Sie liess mich nicht mehr ran.» Er besah die Kuh genauer – sie hatte Wunden, die wie Schnitte aussahen: an der Kehle, am Euter, am Rücken. Der Bauer fragte sich: «Wer hat meine Kuh so zugerichtet?» Er holte die Tierärztin, aus Freiburg kam jemand von der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt, nahm Abstriche und stellte zweifelsfrei fest: Das war der Wolf.
Robin Vogelbacher hätte diesen Angriff nicht für möglich gehalten. Seine Weide liegt gerade einmal 500 Meter vom Hof am Ortsrand entfernt. In der Nähe verläuft die vielbefahrene Bundesstrasse. Da soll sich der Wolf an ein ausgewachsenes Rind im Herdenverbund trauen?
Vogelbacher desinfizierte die Wunden von Annabell mit Blauspray, später behandelte er sie mit Babyöl. Das Tier hat wieder Zutrauen gefasst, lässt sich willig von ihm führen. Aber der Bauer ist nachhaltig verstört.
Der Wolf spaltet die Gesellschaft
«Bisher hatte ich nichts gegen den Wolf – jetzt habe ich Angst vor ihm.» Ausserdem musste er feststellen, dass unter den Menschen die Wolfsromantiker das grosse Wort führen. «Wenn ich sage, was ich fühle, muss ich aufpassen, dass ich keine Angriffsfläche biete. Wenn es um den Wolf geht, ist unsere Gesellschaft abartig gespalten.»
Der ETH-Biologe Marcel Züger aus dem Kanton Graubünden wollte dem Wolf «eine würdige Rückkehr in die alte Heimat ermöglichen». Diesen Standpunkt vertrat er 1997. Er hielt ihn für ein scheues Tier, das sich von niedrigen Zäunen abhalten lässt und Grossvieh aus dem Weg geht. Die Erfahrungen mit der wachsenden Population in Graubünden lehrten ihn, dass es sich um ein Raubtier handelt. Heute sagt er ernüchtert: «Der Wolf ist anders.»
Weil der Käppelehof nicht in einem einsamen Tal, sondern am Rand des Dorfs liegt, sind Schutzhunde hier keine Lösung. Vogelbacher sagt: «Wenn die nachts bellen, mache ich mir unter den Nachbarn keine Freunde.»
So setzt er sich am späten Nachmittag auf den Bagger. Fundamente graben für einen grossen Laufstall. Später will er noch die Anträge für den wolfsicheren Zaun ausfüllen. Er stöhnt jetzt schon über den bürokratischen Aufwand – ein Kollege bei Emmendingen musste für seinen Zaun einen Bauantrag stellen. Robin Vogelbacher sagt frustriert: «Wenn der Zaun nichts bringt und sich gesellschaftspolitisch nichts ändert, bleibt für meine Rinder nur die Stallhaltung.»
In der Diskussion um den Wolf tut sich im Schwarzwald eine Kluft auf zwischen Stadt und Land. Wer in der Stadt lebt, kann gut die moralisch verbrämte Forderung nach grösserer Artenvielfalt stellen. Robin Vogelbacher, der Bauer aus dem Südschwarzwald, dreht den Spiess um: «Wenn ich gefragt werde, ob in Stuttgart alle Autos mit Verbrenner verboten werden sollen, bin ich dafür. Es betrifft mich ja nicht.»
Auf dem abgelegenen Windberghof zeigt Holger Albrecht zu dem silbergrauen Baumgerippe, das wie eine Skulptur auf seiner Weide steht. Er könnte die tote Fichte fällen, aber er sagt: «Der Schwarzwald ist schön, weil er so rau ist.» Seine Ziegen fressen gemütlich vor sich hin. Was passiert, wenn sich in der Nachbarschaft neue Rudel bilden?
«Im Moment profitieren wir vom Wolf», sagt Holger Albrecht, «er hält uns das Rotwild in Schach.»