Nachdem US-Präsident Donald Trump die «reziproken» Zölle für neunzig Tage ausgesetzt hatte, haben sich die Börsen weltweit erholt. Die Freude über die Pause im Handelsstreit könnte allerdings kurz sein.
Donald Trump scheint das Spiel mit den Börsen zu lieben. Mit der Ankündigung seiner «reziproken» Zölle löste der US-Präsident einen weltweiten Ausverkauf aus, der sogar den Treasury-Markt erschütterte. Mit dem Aussetzen der Zusatzabgaben für neunzig Tage für Länder, die keine Gegenmassnahmen ergriffen haben, befeuerte er im S&P 500 den grössten Tagesgewinn seit Oktober 2008. Ist mit dem Abmildern des Handelskriegs auf den Zwist mit China das Gröbste überstanden und «Business as usual» angesagt?
Viele Experten sind skeptisch. «Obwohl die Zölle den Sell-off ausgelöst haben, waren sie nicht die Ursache», sagt Stefan Risse von der deutschen Fondsgesellschaft Acatis gegenüber The Market. «Die Alarmsignale waren schon vorher da.» Dazu zählten ein Rückgang des Konsumenten- und des Geschäftsvertrauens oder die Tatsache, dass Analysten ihre Gewinnschätzungen für die im S&P 500 versammelten Unternehmen kürzten.
Der Abschwung begann schon vor dem Zollhammer
Tatsächlich schwächen sich in den USA viele Vorlaufindikatoren wie die Einkaufsmanagerindizes sowohl für die Industrie als auch den Dienstleistungssektor oder das Konsumentenvertrauen schon seit Monaten ab (vgl. Grafik). «Die Konsumentenstimmung korreliert historisch eng mit dem Konsum, der 70% der US-Wirtschaft ausmacht», schreibt Peter Berezin, Stratege beim kanadischen Analysehaus BCA Research. Dazu habe sich die Investitionsneigung, die nach der Wahl Trumps sprunghaft gestiegen sei, abgekühlt und deute auf ein geringes Wachstum der Kapitalausgaben hin.
Auch Risse erwartet keinen grossen Impuls von den Investitionen, zu gross sei der Vertrauensverlust, den die Trump-Regierung in den letzten Monaten verursacht habe. Es sei völlig unklar, was während und nach den neunzig Tagen, während deren die «reziproken» Zölle ausgesetzt seien, noch alles passiere. «Trump selbst sagt, der Handelszwist sei noch nicht vorbei.» Bis zu den Zwischenwahlen in achtzehn Monaten werde es unruhig bleiben, ist Risse überzeugt.
Weiter akzentuieren könnte sich der Abschwung, weil viele US-Unternehmen im Hinblick auf die Einführung der Zölle ihre Lager aufgefüllt haben und ihr Bedarf vorerst gedeckt ist. Ähnlich wie nach der Covid-Pandemie könnte der nun folgende Lagerabbau das Wachstum belasten.
Auch der US-Immobilienmarkt schwächelt
Risse verweist zudem auf den US-Immobilienmarkt, an dem die Anzahl unverkaufter Häuser auf den höchsten Stand seit 2009 gestiegen ist. «Derzeit laufen niedrig verzinste Hypotheken aus, doch die höher verzinsten aktuellen Hypotheken sind für viele Immobilienbesitzer nicht mehr tragbar.» Deshalb sei die Zahl der abgelehnten Refinanzierungsgesuche auf ein neues Hoch geklettert. Die Zinserhöhungen der vergangenen Jahre würden ihre Wirkung erst allmählich entfalten.
Auch der grosse Optimismus der Anleger, der bis vor dem Ausverkauf geherrscht hatte, bereitet Risse Sorgen. Private und institutionelle Investoren hielten nie mehr US-Aktien als heute (vgl. Grafik). Zudem liessen die grossen Tagesschwankungen darauf schliessen, dass weiterhin viele Zocker aktiv seien. Gerade weil auch Private stark in Aktien investiert sind, rechnet Risse mit einer zusätzlichen Belastung für den Konsum, da US-Werte im ersten Quartal deutliche Verluste erlitten haben.
US-Aktienquote ist so hoch wie während der Technologieblase
Eine Rezession in der grössten Volkswirtschaft würde im Rest der Welt kaum unbemerkt bleiben und die Unternehmensgewinne belasten. «Weil die Welt vermutlich in eine Rezession rutscht, wird der Ertrag der Unternehmen sinken», sagte der langjährige Marktbeobachter Felix Zulauf kürzlich in einem Interview mit der «Neuen Zürcher Zeitung». Er fürchtet deshalb, dass die Börsen während der Berichtssaison in der zweiten Jahreshälfte weiter einbrechen, auch wenn sie sich dank erfolgreicher Verhandlungen im Zollstreit zwischenzeitlich erholen sollten.
Wachstumswerte sind immer noch so teuer wie im Februar 2000
Das gilt umso mehr, als gerade die US-Börse noch immer hoch bewertet ist. «Auch nach den jüngsten Verlusten sind Wachstumsaktien ‹nur› so teuer wie im Februar 2000», schreibt Norbert Keimling vom deutschen Vermögensverwalter Taunus Trust (vgl. Grafik). Das lasse viel Raum für Enttäuschungen, gerade bei den in den Indizes hoch gewichteten Börsenlieblingen, die vorwiegend aus den USA stammen.
Wie weit könnten die Börsen also fallen, wenn sie erneut ins Rutschen geraten? Peter Berezin von BCA veranschlagt die faire Bewertung für den S&P 500 im Bereich zwischen 4200 und 4700 Punkten. Fiele das US-Leitbarometer in diese Zone, würde er die Aktienquote auf neutral anheben. Sollte der S&P 500 unter 4200 sinken, wären US-Aktien günstig, und daher wäre ein Übergewicht angezeigt. Derzeit notiert der Index bei 5450.
S&P 500 könnte in einer Rezession auf 4000 zurückfallen
Ein ähnliches Niveau nennt auch Zulauf. «Eine normale Bewertung aufgrund historischer Erfahrungswerte würde für den S&P 500 knapp unter 4000 Punkten liegen», sagte er im NZZ-Interview. Dass die Zahlen nicht aus der Luft gegriffen sind, zeigt eine einfache Bewertungsmatrix. In vergangenen Rezessionen ist der Gewinn je Aktie im S&P 500 durchschnittlich 11% gefallen (derzeit entspricht das einem Rückgang auf 222 $). Sollte das Kurs-Gewinn-Verhältnis gleichzeitig auf 18 sinken, errechnet sich ein «fairer» Wert von knapp 4000:
Bildet sich das KGV hingegen auf das langfristige Mittel von 16 zurück, liegt das Ziel bei 3500. In den Börsen- und Bewertungstiefst der Siebziger- und zu Beginn der Achtzigerjahre wurden gar einstellige KGV erreicht. Nur lagen die Zinsen damals viel höher als heute.
Dass es so weit kommt, glauben derzeit die wenigsten. «Die gute Nachricht ist, dass der US-Privatsektor anders als 2008 nicht von strukturellen Ungleichgewichten geprägt ist, deren Korrektur Jahre braucht», schreibt Berezin. Stefan Risse betont zudem, dass sich das Risiko einer Stagflation nach dem Aussetzen der Zölle nach hinten verschoben habe, wobei der Handelsstreit mit China viele Produkte für den US-Konsumenten verteuere.
Wegen des vielen spekulativen Geldes am Markt erwartet Risse eine längere Seitwärtsbewegung an der US-Börse. «Wie Börsenlegende André Kostolany zu sagen pflegte, müssen sich die schwachen Hände von ihren Positionen trennen, bevor der Markt auf einer stabilen Basis steht, die höhere Kurse erlaubt.» Acatis hat deshalb schon vor dem Zollhammer US-Aktien abgebaut und nach Europa umgeschichtet.
Europa bevorzugen
«China und Europa werden voraussichtlich keinen gegenseitigen Handelskonflikt beginnen, und die deutschen sowie die europäischen Konjunkturpakete werden für Belebung sorgen», begründet Risse die Umschichtung. Auch Norbert Keimling sieht die besten Chancen ausserhalb der USA. «Nach den jüngsten Rückschlägen erscheinen 24 der vierzig von uns betrachteten Aktienmärkte unterbewertet, nach Marktkapitalisierung machen sie wegen des hohen US-Gewichts jedoch erst 19% des Weltaktienmarktes aus», schreibt er.
Zu den Bereichen, die Keimling mag, zählen Basiskonsumgüter, die dank ihren defensiven Qualitäten lange gesucht und teuer waren, wegen des Hypes um künstliche Intelligenz aber aus der Gunst gefallen sind und deshalb als eine von wenigen Branchen unterhalb ihrer historisch durchschnittlichen Bewertung notieren. So hat er für seinen Contrarian-Fonds in der jüngsten Korrektur Papiere des französischen Spirituosenherstellers Pernod-Ricard gekauft.
Bewertung von Basiskonsumg¨üterherstellern im Vergleich zum Weltaktienmarkt notiert auf Zehnjahrestiefst:
Für eine schwierige Börsenphase spricht ironischerweise auch der grosse Tagesgewinn der US-Börsen von letzter Woche. Wie der Blick in die Vergangenheit zeigt, wurden die grössten Avancen stets während Bärenmärkten verzeichnet, und zwar nicht gegen Ende, sondern eher am Anfang des Abschwungs (vgl. Tabelle im Tweet). Es dürfte also noch eine Weile dauern, bis die starken Hände übernehmen.
Der #Nasdaq 100 heute +12% – drittbester Tag in der über 40-jährigen Geschichte des Index.
Wie #Kostolany sagte: «Wer #Aktien nicht hat, wenn sie fallen, hat sie auch nicht, wenn sie steigen.» pic.twitter.com/ytSjQNSqge— Christian W. Röhl (@CWRoehl) April 9, 2025