Gespräche mit Rückkehrern, Angehörigen und Soldaten an der Front geben seltene Einblicke, wie die russische Armee für ihren Abnützungskrieg im Donbass Tausende Ausländer rekrutiert.
In seinem letzten Tiktok-Video tat Santosh das, was er am liebsten tat: Er tanzte. Mit Sonnenbrille, Pirouetten und Hand auf dem Herzen, die grossen Boy-Band-Posen. Im Hintergrund lief dazu ein Film-Song in Nepali. Als Santosh dieses Video Anfang Januar hochlud, war er bereits in der Ukraine. Eine Woche später schrieb er seinem Bruder: «Sie haben mich geholt.» Die Russen hätten ihn an die Front versetzt. Am folgenden Tag schrieb sein Bruder: «Bitte komm online.» Doch Santosh meldet sich nicht mehr.
Santosh war 26 Jahre alt, als er in die Ukraine ging. Er stammte aus einem Dorf im Westen Nepals. Ein Jahr war er Gastarbeiter in Polen, bis ihn die Covid-Pandemie zwang, nach Nepal zurückzukehren. Er arbeitete dann eine Zeitlang in Kathmandu als Wachmann und unterstützte mit seinem Lohn die Familie. Santosh tanzte gerne, er hatte es nie gelernt, hatte einfach Talent für die flüssigen Bewegungen, die grossen Gesten. In seinen Tiktok-Videos sang er oft Playback zu nepalesischen Pop-Songs.
Seit dem 15. Januar 2024 ist Santosh irgendwo in der Nähe der Stadt Donezk im Osten der Ukraine verschollen. Er ist einer von wohl Tausenden Nepalesen, die sich als Söldner in der russischen Armee verdingt haben und in den Krieg gegen die Ukraine geschickt worden sind. Seine Familie hat die Hoffnung aufgegeben, dass er noch am Leben ist.
Viele der Nepalesen in Russland und der Ukraine posten wie Santosh auf Tiktok – bis ihre Accounts verstummen. Die nepalesische Regierung gibt die Zahl der Söldner mit 200 an. Angehörige, Rückkehrer und Nepalesen an der Front sagen aber in Gesprächen, die Zahl sei stark untertrieben. Sie schätzen, dass es 5000 bis 15 000 sind.
Die Gespräche und die Videos der Söldner in den sozialen Netzwerken geben seltene Einblicke in das Innenleben der russischen Armee: wie sie ausländische Kämpfer rekrutiert und wie sie sie behandelt in einem Krieg, der eigentlich nicht der ihre ist.
Der Rückkehrer
Die ersten Videos von Nepalesen in Russland tauchten im vergangenen Sommer auf Tiktok auf. Darin sind junge Nepalesen in russischen Uniformen zu sehen, die vor klobigen grünen Gebäuden marschieren. Sie lachen in diesen Videos, als wäre alles nur ein Spiel, sie zielen mit ihren Sturmgewehren in die Kameras.
Es waren diese Tiktok-Videos, die Suman Rai überzeugten, dass der Krieg in der Ukraine so schlimm nicht sein kann. Wie Tausende andere Nepalesen liess er sich blenden. Heute ist Rai zurück in Kathmandu, «aber manchmal kommt es mir vor, als sei ich noch immer dort».
Rai ist 31 Jahre alt, Koch von Beruf und besitzt in Kathmandu ein Imbisslokal. Er hat lange in Malaysia gearbeitet und wollte eigentlich gerne wieder dorthin, um mehr Geld zu verdienen. Ein Vermittler machte ihm im Herbst ein Angebot: Russland statt Malaysia, Soldat statt Koch, viermal so viel Lohn. Laut Rai wurden ihm 1300 Franken versprochen. Zudem werden Prämien bezahlt.
Vermittler wie jener von Rai gibt es in Kathmandu viele, Nepal gehört zu den ärmsten Ländern der Welt, fast ein Viertel des Bruttoinlandprodukts stammt von den Arbeitsmigranten im Ausland. Die Agenten schicken Nepals junge Männer auf Baustellen in Katar, in Restaurants in Indien und nun eben als Soldaten nach Russland.
«Ich habe nur die obligatorische Schulzeit abgeschlossen. Aber in Russland schien jeder einfach in die Armee eintreten zu können», sagt Rai. Auch andere Interviewpartner sagen, Russlands Armee nehme derzeit jeden Nepalesen auf, der sich freiwillig melde. Es braucht keine Qualifikation und keine gesundheitlichen Voraussetzungen.
Die klobigen grünen Gebäude, in denen alle Nepalesen nach ihrer Ankunft in Moskau landen, sind das Awangard-Trainingszentrum, dies lässt sich mittels Bilderkennung identifizieren. Das Zentrum liegt etwa 50 Kilometer südwestlich von Moskau. Es wurde zwei Jahre vor dem Krieg als Feriencamp für patriotische Jugendliche eröffnet. Heute ist es die erste Station für ausländische Kämpfer.
Nicht nur Nepalesen kämpfen für Russland, auch Äthiopier, Ivoirer, Inder, Chinesen, Zentralasiaten. Im Januar unterzeichnete Wladimir Putin einen Erlass, gemäss dem jeder Ausländer, der ein Jahr in der russischen Armee gedient hat, die Staatsbürgerschaft ohne weitere Prüfung erhalten kann. Das Versprechen auf einen Pass und der Sold locken Menschen aus aller Welt ins Awangard-Zentrum.
Auch Suman Rai war dort. Er hat seinem Agenten über 6000 Dollar bezahlt und musste 1000 Dollar Bargeld mitnehmen. Über Dubai flog er mit einem Touristenvisum nach Moskau, am Flughafen Domodedowo wurde er von den Grenzbeamten mit anderen Nepalesen mehrere Stunden festgehalten, bis ein russischer Schlepper sie abholte. Das Bargeld mussten sie ihm aushändigen, Rai nimmt an, damit wurden die Beamten bezahlt. «Selbst die Polizei ist Teil dieses Systems», sagt Rai.
Zwei Wochen dauert gewöhnlich die Ausbildung in Awangard: schiessen, robben, erste Hilfe. Die meisten Nepalesen sprechen kaum Englisch, geschweige denn Russisch. In einem Tiktok-Video sagt ein russischer Ausbilder zu einem Nepalesen in Turnschuhen und mit Sturmgewehr im Anschlag: «Bum, bum, bum», und auf Russisch: «Hast du verstanden?» Der Nepalese schaut ratlos. Ein anderer Russe sagt: «Der hat überhaupt nichts verstanden.» Der Ausbilder entgegnet: «Ja, ich weiss, dass der mich nicht versteht. Aber was soll ich denn machen?» Dann lacht er.
Nach Awangard werden die Nepalesen aufgeteilt. Einige von ihnen kommen direkt in die Ukraine: nach Bachmut, Donezk, Lisitschansk. Einige, wie Rai, bleiben länger zur Ausbildung in Russland, sie sind irgendwo mehrere Stunden entfernt von Moskau stationiert. Rai freundete sich dort mit einem Russen an. «Er sagte mir: ‹Die Nepalesen wissen nicht, wann sie nach links oder nach rechts gehen sollen. Deshalb sterbt ihr.›» Rai kennt die Worte links und rechts auf Russisch nun immerhin.
In dieser Zeit erhielt Rai Nachrichten von der Front, andere Nepalesen schickten Fotos von Toten und Verwundeten. Er bekam Angst. Der russische Schlepper half ihm bei der Flucht, Rai bezahlte ihm noch einmal fast 3000 Dollar. Rai versteckte sich im Wald, ein Taxi holte ihn ab und brachte ihn zurück nach Moskau.
Ein weiterer Rückkehrer bestätigt Rais Erfahrungen. Er sagt, als er aufgebrochen sei, habe er nur gewusst, dass in der Ukraine Krieg herrsche. Sein Vermittler habe ihm jedoch versichert, er müsse nicht an die Front. Er weiss noch immer nicht genau, wieso Russland in der Ukraine Krieg führt. Die russischen Soldaten hätten ihm nur gesagt: «Die Ukraine war einmal Teil von Russland.» Sie müssten sie jetzt zurückerobern.
Die Ehefrau
Anfang Februar versammelt sich in einem Café in Kathmandu eine Gruppe von Angehörigen. Ihre Söhne, Brüder, Ehemänner sind in Russland. Viele haben den Kontakt verloren. Eine von ihnen ist die 32-jährige Sita Maya Bal. Ihr Ehemann kämpft in der Ukraine. Vor einigen Tagen bat sie auf der russischen Botschaft in Kathmandu darum, dass ihr Mann nach Hause geschickt werde. «Sie sagten mir: ‹Wieso hast du ihn gehen lassen? Jetzt musst du ihn selber zurückholen.›»
Die Familien fordern von der nepalesischen Regierung, ihre Liebsten zurückzuholen. Im Januar bat Nepals Aussenminister Russland darum, keine Nepalesen mehr für die Armee zu rekrutieren. Die Regierung hat die Ausreise von Gastarbeitern nach Russland verboten und mehrere Vermittler verhaftet. Allerdings ist es schwierig, die klandestinen Schleppernetzwerke zu zerschlagen. Auf die Anfrage, ob es Massnahmen treffe, um seine Staatsbürger zurückzuholen, reagierte das nepalesische Aussenministerium nicht.
Sita Maya Bal hat ihren Mann gewarnt, als er Ende September nach Russland aufbrach. Nun kann sie nachts vor Angst kaum schlafen. Am Tag lenkt sie sich ab. Im Café in Kathmandu hilft sie mit, eine Liste mit Namen zu erstellen: damit zumindest jemand weiss, wie viele Nepalesen tatsächlich in Russland kämpfen.
Ein Telefon klingelt, eine russische Nummer, noch jemand für die Liste: Der Nepalese sagt seinen Namen. Und dann: «Ich bin im Spital. Ich habe nur noch ein Bein.» Dann legt er auf.
Bal glaubt, dass ihr Mann ihr lange nicht erzählt hat, wie schlimm es an der Front ist. Vor zwei Wochen sandte er ihr jedoch ein Abschiedsvideo, in dem er sagte: «Das könnte mein letztes Video sein, das ist für dich zur Erinnerung.» Noch lebt er. Sie zeigt ein neueres Video von ihm in einem Bunker, zusammen mit vier anderen Nepalesen, sie essen Energieriegel. Sie erhielten kein Wasser, sagt Bal, also ässen sie Schnee.
Nepalesen dienen schon seit über hundert Jahren in fremden Armeen. Sie kämpften im Ersten Weltkrieg in den Schützengräben Frankreichs, sie fielen in den Wüsten Nordafrikas im Zweiten Weltkrieg, sie starben im Irak und in Afghanistan. Meistens bleiben sie Fussnoten in den Kriegen dieser Welt. Noch immer rekrutieren die britische und die indische Armee Söldner aus Nepal für ihre Gurkha-Regimenter. Die Männer, die sich jetzt der russischen Armee anschliessen, sind jedoch keine Gurkhas, sondern Köche, Fahrer, ehemalige Polizisten und frühere Soldaten der nepalesischen Armee.
Während Bal in dem Café in Kathmandu an der Liste arbeitet, diskutiert sie mit anderen Angehörigen über die Ukraine. Sie alle verfolgen jetzt diesen Krieg, der in ihrem Leben zuvor keine Rolle gespielt hat. Sie sagen, die Ungewissheit sei das Schlimmste: dass sie nicht wüssten, ob die Ehemänner, Söhne, Brüder noch am Leben seien oder wie lange noch.
Der Verwundete
Klickt man sich durch die Tiktok-Videos der vergangenen Wochen, kann man verfolgen, wie die Verzweiflung vieler Nepalesen in Russland wächst. Am Anfang ist da noch Euphorie, dann zumindest Soldatenromantik: Lagerfeuer, Marschieren im Schnee, gemeinsames Ausheben von Schützengräben. Irgendwann werden die Videos aber zu Hilferufen.
Dipendra, der eigentlich anders heisst, liegt heute in einem Spital in Moskau. Er zeigt im Video-Call seine bandagierte Hand. Er sagt, eine Granate habe ihm einen Finger weggerissen. «Die Russen behandeln uns wie Hunde», sagt er. Er sei in einem Schützengraben in der Nähe von Donezk gewesen. «Tote Nepalesen lassen sie einfach liegen», erzählt er.
Ein anderer verwundeter Nepalese erzählt am Telefon, sein Kommandant habe ihn geschlagen. Ihm sei zudem der Pass weggenommen worden. Fünf Kugeln hätten ihn im Kampf getroffen, doch niemand habe erste Hilfe geleistet, er habe drei Stunden zum nächsten Graben robben müssen.
Zwölf Nepalesen sind nach offiziellen Angaben bisher in der Ukraine umgekommen. Doch auch hier dürfte die Dunkelziffer beträchtlich sein. Die Leichen werden nicht nach Nepal zurückgebracht. Die Familien tragen daher in ihren Trauerprozessionen einen aufgebahrten Stein durchs Dorf oder zünden einen leeren Scheiterhaufen an. Fünf Nepalesen befinden sich in ukrainischer Gefangenschaft.
Keiner der interviewten Nepalesen weiss genau, in welcher Einheit er gedient hat. Sie sagen, sie hätten gemeinsam mit Russen gekämpft, was darauf hindeutet, dass sie nicht einer separaten Fremdenlegion zugeteilt worden waren. Die Abzeichen, die sie in ihren Videos tragen, sind von der russischen Armee: der Stern auf der Mütze, Russland-Flaggen am Arm, Flaggen der selbst ausgerufenen «Volksrepublik Donezk» am Helm, Abzeichen eines Fallschirmspringer-Regiments.
Mehrere Ausbilder in den Videos tragen die Totenkopfabzeichen der Söldnertruppe Wagner, die bis zur Meuterei ihres Anführers Jewgeni Prigoschin im Juni eine wichtige Rolle in der Ukraine gespielt hat. Es sind in den Videos auch Nepalesen mit Wagner-Abzeichen zu sehen. Alle Interviewten verneinten aber, dass sie Teil von Wagner gewesen seien. Nur einer sagte, er sei von Wagner-Kämpfern ausgebildet worden.
Mehrere Familien haben bereits Geld aus Russland erhalten, offenbar bekommen die Nepalesen ihren Sold. Einige sind trotzdem desertiert oder haben es zumindest versucht. «Alle Nepalesen wollen heim», sagt Dipendra, der Verletzte im Spital. Nach seiner Genesung wird er wohl zurück an die Front geschickt. In Nepal rekrutieren die Agenten derweil weiter Söldner. Und Dipendra postet noch immer auf Tiktok, kürzlich, wie sie ihn zusammennähten.
Mitarbeit: Shristi Kafle, Gilles Steinmann