Noch ist Putins Neototalitarismus nicht völlig totalitär: Es gibt in Russland nach wie vor kulturelle Freiräume, doch schwinden diese zusehends. Der Kulturbetrieb bleibt erfinderisch, oft mit alten Tricks aus Sowjetzeiten.
Im Laufe des Jahres 2022 konnte man auf den Strassen Moskaus, an den Stränden des russischen Teils der Kurischen Nehrung oder im Hochgeschwindigkeitszug von St. Petersburg nach Moskau Menschen aller Altersgruppen mit George Orwells Roman «1984» in der Hand antreffen. Den Leuten wurde damals klar, wohin sie der 24. Februar 2022 geführt hatte, und sie wollten verstehen, was sie gemäss der berühmtesten Beschreibung totalitärer Dystopie in ihrem zukünftigen Leben erwartete.
Diejenigen, die in Russland geblieben sind, haben sich später damit abgefunden, dass Orwell nun einmal Orwell ist – was könne man schon dagegen tun? Seitdem sind Bücher von Autoren, die zu «ausländischen Agenten» erklärt wurden, aus den Regalen der russischen Buchhandlungen und Bibliotheken verschwunden. Aber «1984» liegt als eine Art Selbstporträt der Gesellschaft nach wie vor in allen Buchhandlungen in Hülle und Fülle auf.
Talentfreies Gedöns
Der Buchmarkt ist trotz dem Ausschluss der politisch unzuverlässigsten Autoren zu einem Feld der Anspielungen geworden. Er ist immer noch am wenigsten restriktiv, auch wenn von Zeit zu Zeit Vorschläge für eine verschärfte Repression auftauchen: zum Beispiel die Idee von Elena Jampolskaja, der Beraterin des Präsidenten für Kultur, die Freigabe von Büchern nach dem Vorbild der Freigabe von Filmen zu regeln, die jeweils «Vertriebszertifikate» erhalten oder auch nicht.
Inhaltlich bedeutet dies keine Nachzensur, sondern eine Vorzensur. Elemente davon gibt es zum Beispiel bereits auf Buchmessen, die jetzt viel strenger kontrolliert werden und auf denen «Z-Literatur» propagiert wird, ein absolut talentfreies opportunistisches Gedöns bestehend aus «Prosa» und «Poesie», wo für den Krieg geworben und das selbstmörderische soldatische Heldentum gefeiert wird.
Noch ist Putins Neototalitarismus nicht völlig totalitär: Es gibt nach wie vor relative Freiräume, in denen eine Privatperson in ihrer Privatexistenz mit einem guten Buch allein sein kann. Das umfasst auch Musik. Wobei Youtube in Russland «verlangsamt» wird, das heisst, eigentlich ist es blockiert, aber man kann es über VPN ansehen und anhören.
Es gibt wenig, was das russische Publikum bremsen kann (das bereits zu einer soziologischen Kategorie geworden ist: die Youtube-Schauer), Gespräche und Musik, Informationen und Meinungen über Youtube zu konsumieren. Diese Leute sind in ihren politischen Ansichten meist demokratisch orientiert – was ja auch der Grund ist, warum versucht wird, den Kanal zu blockieren.
Es gibt eine typische Forderung eines typischen Abgeordneten, in diesem Fall Andrei Lugowoi (der verdächtigt wird, den ehemaligen FSB-Offizier Alexander Litwinenko in London mittels Gift ermordet zu haben): Die russische Regierung solle ausländische Musik auf russischen Musik-Streaming-Plattformen schlicht und einfach verbieten. Und mit ihr die Musik von russischen Musikern, die «ausländische Agenten» sind, zu denen etwa die sehr populären Rockveteranen Boris Grebenshchikov und Andrey Makarevich gehören, die einst aus der Dunkelheit des sowjetischen Untergrunds ans Licht traten, heute aber Emigranten sind. Darin spiegelt sich die russische Geschichte der letzten Jahrzehnte. Zu Sowjetzeiten hatten die beiden Künstler wenigstens die Möglichkeit, in ihrem Heimatland zu bleiben.
Der Winter der Literatur
Ein aufsehenerregendes Beispiel für die Vorzensur und die Selbstzensur bei der Publikation eines Buches zeigte sich übrigens bei der Veröffentlichung der Pasolini-Biografie von Roberto Carnero. Alle Passagen, die auch nur den Anschein von «Propaganda» für gleichgeschlechtliche Beziehungen hätten erwecken können (Propaganda wird in Russland strafrechtlich verfolgt), wurden mit Druckerschwärze abgedeckt. Natürlich wurde das Buch dann gleich Kult in intellektuellen Kreisen, obwohl zu vermuten ist, dass die heutigen Leser sich nicht für Pasolini interessieren.
Ein weiteres Beispiel für die nicht allzu hohe Kunst der vorauseilenden Zensur: Ein Buch von Alexander Genis, einem bei eigenständig denkenden Lesern sehr beliebten Essayisten, der noch zu Sowjetzeiten in die Vereinigten Staaten ausgewandert war, wurde an die Druckerei zurückgeschickt. Es sollte mit dem Etikett «Von einem ausländischen Agenten» versehen zu werden. Dabei war die Auflage fast schon vergriffen.
Man kann die Bücher des populärsten russischen Schriftstellers der letzten Jahre, Boris Akunin (Pseudonym von Grigori Tschchartischwili), der nicht nur als «ausländischer Agent», sondern auch als «Extremist» bezeichnet wird, sehr wohl aus den Regalen von Buchhandlungen und Bibliotheken entfernen. Oder die Romane der «ausländischen Agentin» Ljudmila Ulitzkaja, der wichtigsten Stimme der postsowjetischen Intelligenzia, die die Tradition der urbanen Prosa fortsetzt.
Das indes wird erstens ihre Popularität als intellektuelle Figuren nicht schmälern. Und zweitens gibt es zum Trost eine Reihe von Verlagen, die ungeachtet der misslichen Umstände erstklassige Belletristik und Sachliteratur produzieren. Und diese sind voll von Anspielungen und Andeutungen, die jeder versteht.
So sind in jüngster Zeit zahlreiche Werke erschienen, die sich mit dem Alltag in Nazideutschland oder dem Verständnis von Ursachen und Symptomatik von gesellschaftlicher Gleichschaltung beschäftigen. Jüngst erschienen Thomas Manns Rundfunkansprachen aus dem amerikanischen Exil, «Höre, Deutschland» (Original «Deutsche Hörer!») sowie eine Übersetzung von Uwe Wittstocks Abhandlung «Februar 1933: Der Winter der Literatur», welche die Schicksale deutscher Schriftsteller in den ersten sechs Wochen von Hitlers Herrschaft erzählt. Auch hier kann der russische Leser, wie bei «1984», Anspielungen auf sein Leben im Heute suchen und finden.
Gelegentlich, aber sehr selten und nur in Buchhandlungen der Intelligenzia, findet ein Buch aus dem Ausland zufällig den Weg in die Regale: Der Samisdat erlebt ein Comeback, weil ausgewanderte russische Verleger im Westen aktiv werden, so wie einst in den 1920er Jahren und später. Dennoch ist die Situation etwas anders als zur Sowjetzeit, denn es gibt immer noch genügend vielfältige und gehaltvolle Literatur auf dem heimischen Markt.
Nur ein «Vorfilm»
In anderen Bereichen ist das Leben der Kunst härter. Gewiss, es gibt kleine Theater, in denen sogar noch Inszenierungen der Dramatikerin, Dichterin und Regisseurin Jewgenija Berkowitsch, die im Gefängnis sitzt und des «Extremismus» beschuldigt wird, aufgeführt werden. Aber die grossen Häuser sind gezwungen, ihren Spielplan vorsichtig der politischen Situation anzupassen.
Filmkritiker sagen, dass es nach wie vor modernes russisches Filmschaffen gebe, und es sei durchaus kein schlechtes. Aber was auf die grosse Leinwand kommt, zeugt fast ausschliesslich von Massenkultur und schlechtem Geschmack. Gutes westliches Kino gelangt oft noch mit einem simplen und allgemein bekannten Trick ans Publikum. Danach werden cineastische Filme als undeklarierte Quasi-Vorfilme eines beliebigen, aber politisch korrekten einheimischen Kurzfilms eingeschmuggelt. Die Behörden versuchen, dagegen anzukämpfen, aber nur schleppend, weil sonst die Kinos massenhaft in Konkurs gehen würden.
Der russische Kultur-Fernsehsender, der früher dafür bekannt war, intellektuelles westliches Kino zu zeigen, kann sich das nicht mehr leisten. Aber alte französische Krimiserien mit Maigret sind schon noch erlaubt.
Der verstorbene russische Soziologe und Filmwissenschafter Daniil Dondurey teilte die Fernsehzuschauer einst in ein «Tages»-Publikum, das Inhalte konsumiert, die von denen stammen, die von der Obrigkeit verlangte Mythen schaffen und sie ins Massenbewusstsein einträufeln, und ein «Nacht»-Publikum, das intellektuell und freidenkerisch ist.
Für das «Nacht»-Publikum gab es im Fernsehen einst vorzügliche Dokumentationen und intelligente Filme. Aber das ist mittlerweile Vergangenheit. Die obskure staatliche Propaganda füttert sowohl das «Tag»- als auch das «Nacht»-Publikum heute mit einem Brei von bedeutungslosem und sinnentleertem Inhaltsmaterial.
Mangels ausländischen Inputs sind das Fernsehen und der Filmverleih gezwungen, in die Tiefen ihrer Gewölbe hinabzusteigen, um alte Werke herauszuholen, deren Vorführung unter dem Gesichtspunkt der Zensur und der Selbstzensur politisch genehm ist. Museen und Ausstellungskuratoren gehen nach demselben Rezept vor: Sie verpacken Kunst, die Kunstliebhabern schon lange bekannt ist, neu, und nicht wenige wirklich interessante Lagerfunde erweisen sich in Ermangelung internationaler Museums- und Ausstellungskooperation als Lebenselixier.
Ach ja, die Klassik . . . Niemand hindert einen daran, die russischen Klassiker zu hören. Wenn man beim Hören nicht ins Sinnieren darüber gerät, wie viele der beliebtesten früheren und heutigen Dirigenten Russlands der Macht im Kreml die Treue geschworen und den Krieg verherrlicht haben. Und es ist fast unmöglich, nicht daran zu denken.
Andrei Kolesnikow ist Journalist, politischer Kommentator und Buchautor (so hat er eine Biografie des Reformers Jegor Gaidar verfasst). Er lebt in Moskau und schreibt unter anderem für die Online-Zeitung «Nowaja Gaseta». – Aus dem Englischen von A. Bn.