Die amerikanische Sopranistin stammt aus einer Familie mit ukrainischen und aschkenasischen Wurzeln, sie wird international für den psychologischen Feinschliff ihrer Interpretationen gefeiert. Ihren Durchbruch hatte Corinne Winters am Opernhaus Zürich.
Sie steht in einem Schaufenster zwischen Puppen, wird ausgestellt wie eine solche, buchstäblich zur Schau gestellt. Diese Frau ist aber nicht starr und regungslos wie eine Puppe, sondern unablässig in Bewegung. Eine Handkamera zoomt dicht an sie heran, sie lässt jede noch so kleine Regung über eine grosse Leinwand flimmern. Die Frau wird regelrecht unter die Lupe genommen.
Die Frau im Schaufenster heisst Katja Kabanowa, und der gläserne Kasten symbolisiert in Krzysztof Warlikowskis Münchner Neuinszenierung der gleichnamigen Oper von Leoš Janáček das öde, triste, beengte Leben, das sie in der russischen Provinz an der Wolga führen muss. In die Fluten dieses Stroms wird sich Katja am Ende stürzen. Jetzt aber steht sie da, im gläsernen Käfig, und während ihre Mitmenschen in dieser Ödnis längst den regungslosen Puppen ähneln, will Katja nur fort aus diesem Gefängnis, fort aus diesem Leben.
Katja Kabanowa – das ist an diesem Premierenabend in der Bayerischen Staatsoper die Sopranistin Corinne Winters. Und wie die amerikanische Sängerin das allmähliche seelische Zerbrechen der Titelfigur gleichsam unterm Vergrösserungsglas verlebendigt: Das ist grösste Gesangs- und Schauspielkunst in einem. Für Winters bricht nach diesem Hausdebüt denn auch ein Jubelsturm los. Gänzlich unerwartet kommt der Erfolg indes nicht: Die Rolle der Katja zählt – wie auch die der Titelfigur in Janáčeks «Jenůfa» – zu ihren Glanz- und Paraderollen. In beiden zieht Winters seit einigen Jahren in einer Art Triumphzug von Bühne zu Bühne.
Ein Bühnenmensch
Unvergessen ist etwa ihr Debüt als Katja bei den Salzburger Festspielen 2022, hier in einer Inszenierung von Barrie Kosky. Hinter den verschiedenen Regieansätzen, mit denen Winters im Lauf der Zeit konfrontiert wurde, stehen freilich auch unterschiedliche Sichtweisen auf diese Frauengestalt, und Corinne Winters lebt sich akribisch jedes Mal aufs Neue in sie ein. Bei ihr gibt es nicht die eine Katja, sondern mehrere – und das wiederum sowohl stimmlich als auch in der Darstellung. Das verbindet sie mit der charismatischen Charakterdarstellerin Asmik Grigorian, die sich ähnlich flexibel, aber ebenso rückhaltlos in das jeweilige Rollenkonzept einlebt.
Corinne Winters stellt ihre Wandlungsfähigkeit nicht nur im anspruchsvollen osteuropäischen Opernrepertoire unter Beweis. Am Festival in Aix-en-Provence glänzte sie 2024 in gleich zwei Titelpartien von Christoph Willibald Gluck, nämlich in dessen Opern «Iphigénie en Aulide» und «Iphigénie en Tauride». Statt die beiden Iphigenien als ein und dieselbe Figur aufzufassen, verdeutlichte sie im Verlauf dieses Doppelabends deren innere Wandlung. Winters’ Empathie wirkt immer wieder frappierend und nimmt unmittelbar für das Schicksal der von ihr verkörperten Bühnengestalten ein.
Dafür wurde sie Ende Februar in Brüssel von dem deutschen Fachmagazin «Oper!» ausgezeichnet und zur «Sängerin des Jahres» gekürt. Sie zähle zu den raren Interpreten auf der Opernbühne, die sowohl stimmlich wie auch physisch regelrechten «Achterbahnfahrten» gewachsen seien, so die Jury, die überdies ihr sprachliches Einfühlungsvermögen hervorhob.
Winters zeigt jetzt auch in der Münchner Premiere ein stupendes Gespür für die idiomatische Klanglichkeit der Sprache. Janáčeks 1921 in Brünn uraufgeführte Oper «Katja Kabanowa» verarbeitet das russische Schauspiel «Groza» (Gewitter) von Alexander Ostrowski in tschechischer Sprache, und die präzise Deklamation des Textes gehört in seinen Bühnenwerken generell zu den grössten sängerischen Herausforderungen. In Gesprächen gibt sich Winters allerdings bescheiden und betont, dass sie neben Englisch, ihrer Muttersprache, nur das Italienische «wirklich gut» beherrsche. Umso erstaunlicher die phonetische Genauigkeit und Stimmigkeit ihrer Interpretationen.
Im Leben von Corinne Winters spielt das östliche Europa zudem eine zentrale Rolle. Ein Teil ihrer Familie stammt aus der Ukraine, ihr Vater ist ein aschkenasischer Jude. Mit ihm, einem Rechtsanwalt und Hobby-Rockmusiker, hat sie einst als Heranwachsende Lieder der Beatles gesungen – in ihrem Elternhaus bei Washington. Die Vielfalt und die Vielstimmigkeit der kulturellen Einflüsse haben sie geprägt und bestimmen bis heute ihr Selbstverständnis als Künstlerin.
Durchbruch in Zürich
In Winters’ früher Laufbahn wird das Opernhaus Zürich zu einer entscheidenden Station. Hier gelingt ihr 2016 der internationale Durchbruch, nachdem sie drei Jahre zuvor erstmals an der English National Opera in London für Aufsehen gesorgt hat. Damals zeigt die ENO eine Neuproduktion von Verdis «La Traviata» in der Regie von Peter Konwitschny. Als Violetta ist eine junge, in Europa noch kaum bekannte Sopranistin aus den USA zu erleben. Nach der Premiere, die eine Sternstunde für Winters wird, sollte sich das rasch ändern. Denn im Publikum sitzen der Regisseur Dmitri Tcherniakov und Sophie de Lint, seinerzeit Operndirektorin in Zürich. An dem Abend entsteht der Plan einer Neuproduktion von Debussys «Pelléas et Mélisande» am hiesigen Opernhaus – mit Winters als Mélisande.
Diese Rolle war schon in den USA Winters’ erste professionelle Partie, in einer Inszenierung von David Alden. Tcherniakovs Zürcher Produktion von 2016 wurde mitgeschnitten und liegt auf DVD vor: ein starkes, bleibendes Dokument. Schon ein Jahr darauf ist Winters erneut in der Schweiz zu erleben, bei einer «Traviata»-Produktion am Theater Basel. Und im Sommer 2018 bezaubert sie das Publikum bei den Bregenzer Festspielen als Micaëla in Bizets «Carmen».
Inzwischen hat Winters auch die Wiener Staatsoper mit ihrer Darstellung von Dvořáks Rusalka erobert, jetzt folgte der triumphale Einstand am Münchner Nationaltheater. Corinne Winters ist endgültig auf den ersten Bühnen der Welt angekommen. Gleichwohl will sie auch in Zukunft nicht bloss ihre Erfolgs- und Paraderollen pflegen. Schon Ende April stellt sie sich in Rom der nächsten Herausforderung an ihr sängerisches und schauspielerisches Talent: als verzweifelte Nonne und heimliche Mutter in «Suor Angelica» von Giacomo Puccini.