Die Bedeutung der Schuldenbremse wird in der Schweiz auf ungesunde Weise überhöht: Sie verhindert wachstumsfördernde Investitionen, und die Landesverteidigung wurde jahrelang sträflich vernachlässigt. Eine Reform ist notwendig.
Das Wort Schuldenbremse besteht aus den zwei Wörtern «Schulden» und «Bremse». Das populistische Narrativ ist so einfach wie effektiv: Schulden sind schlecht, und Bremse ist gut – also ist die Schuldenbremse eine gute Sache.
Es ist auch kein Zufall, dass die Schuldenbremse nur in Deutschland und in der Schweiz existiert, so sind nur in der deutschen Sprache die Wörter «Schulden» und «Schuld» kulturell und moralisch seelenverwandt.
Die Schuldenbremse wird von den Finanzministerien in Bern und in Berlin als Erfolgsmodell der fiskalpolitischen Solidität gefeiert. Das Problem ist nur, dass der ökonomische Anspruch und die Wirklichkeit weit auseinander klaffen. Die Schuldenbremse verfolgt einen buchhalterischen Ansatz mit der fatalen Folge, dass volkswirtschaftlich nicht zwischen Konsum und Investitionen unterschieden wird – und es sind Investitionen, welche für eine Volkswirtschaft zu Wachstum, Wohlstand und Resilienz führen.
Die Schuldenbremse täuscht gutbürgerliche Werte wie Sparsamkeit und Stabilität vor, dabei ist die schweizerische Realität seit Einführung der Schuldenbremse im Jahr 2003 geprägt von einem rasanten und uferlosen Ausbau des Sozial- und Subventionsstaates bei gleichzeitig verantwortungsloser Vernachlässigung der Investitionen in kritische Infrastrukturen und die nationale Sicherheit.
Sakrosankte Schuldenbremse und Realitätsverweigerung
Die sakrosankte Schuldenbremse ist wohl das beste Symbol für die Realitätsverweigerung der schweizerischen Politik. Diese nimmt schlichtweg nicht zur Kenntnis, dass die Schweiz weder eine Insel noch eine Berghütte ist und sich, in der Mitte Europas gelegen, in einer Welt der epochalen geopolitischen, wirtschaftlichen, klimatischen, technologischen und sicherheitspolitischen Umwälzungen befindet.
Entscheidend dabei ist, dass keine noch so grosse Sparübung die Summen aufbringen wird, die nötig sind, wenn es der Schweiz mit Wachstum, Resilienz und Sicherheit ernst wäre.
Die Schuldenbremse ist als heilige Kuh in der Schweizer Politlandschaft in bester Gesellschaft, denn es gehören zum Beispiel auch die Neutralität und die Landwirtschaft dazu. Heilige Kühe sind unantastbar, da moralisch überhöht, und politisch bequem, da damit nicht nur Denkverbote, sondern auch Diskussionsverbote verbunden sind.
Heilige Kühe haben oft lange Bestand, da diese von Lobbys, Legenden und Lügen geschützt sind und die Schweiz Jahrzehnte hinter sich hat, in denen es wichtiger war, zu verwalten und zu verteilen als zu regieren und zu leisten. Diese goldenen Zeiten sind aber spätestens seit der globalen Finanzkrise, der Covid-Pandemie und dem Einmarsch Russlands in die Ukraine vorbei.
Solide Staatsfinanzen sind langfristig unerlässlich. Dazu braucht es aber keine zu eng definierte Schuldenbremse, sondern eine strukturell verantwortungsvolle Wirtschaftspolitik. Diese fehlt aber in der von Fragmentierung und Silodenken geprägten Schweiz praktisch gänzlich.
Stattdessen sind Politiker quer durch das Parteienspektrum auf Stimmenfang für ihre Partikularinteressen. Dabei setzen sich die lobbystärksten Interessengruppen rücksichtslos durch, um sich für die eigene Klientel an der Staatskasse zu bedienen. Für die grössten Finanzierungsaufgaben wie etwa der Altersvorsorge werden, typischerweise auf Kosten zukünftiger Generationen, unheilige Allianzen eingegangen.
Die Armee als Opfer auf dem Altar der Schuldenbremse
Landesverteidigung ist oberster Verfassungsauftrag. Warum ist also die Schweizer Armee weder ausgerüstet noch einsatzbereit, und dies so geschehen unter durchwegs bürgerlichen Verteidigungsministern und Parlamentsmehrheiten? Die europäische Sicherheitslage ist so gefährlich wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Warum lebt dann der Politbetrieb in Bern nach dem Motto «Da wir die benötigten Finanzmittel für die Armee nicht bereitstellen wollen, sehen wir für die neutrale Schweiz keine relevante Bedrohungslage»?
Die in Bern gegenwärtig diskutierte Steigerung der Verteidigungsausgaben von derzeit 0,8% der Wirtschaftsleistung auf 1% im Jahr 2030 ist so absurd wie unhaltbar. Die europäischen Nato-Staaten stehen heute bei 2% und marschieren ab 2025 in Richtung 3%.
Unter den faktischen und zeitlichen Umständen wäre der effizienteste und einzig realistische Weg, die Armee über Eidgenössische Wehranleihen («Swiss Federal Defense Bonds») zu finanzieren. Es wäre töricht, die vorteilhaften Konditionen des Kapitalmarktes für derart zweckgebundene, langfristig ausgelegte Investitionen nicht zu nutzen.
Kein Wohlstand und Sicherheit ohne Wachstum
Die Schweiz liegt deutlich unter ihrem Wachstumspotenzial. Dieses gilt es zu realisieren, denn nur so wird es möglich sein, die Sozialwerke finanziell abzusichern und die überfälligen, in den vergangenen Jahren vernachlässigten Investitionen in den Bereichen Energie, Verkehr, Wissenschaft und Ausbildung sowie nationale Sicherheit zu tätigen.
Allerdings operieren die Regierung und das Parlament in Bern weiterhin ohne Wachstumsziele und Strategien. Stattdessen stecken sie fest in einer Endlosschlaufe der budgetären Nullsummenmentalität unter dem Joch der Schuldenbremse und stark gebundenen Ausgaben.
Kernelemente einer erfolgreichen Wachstumsstrategie umfassen die Flexibilisierung des Rentenalters, kontrollierte Immigration, Steuersenkungen, Abschaffung von Subventionen, Produktivitätssteigerung, Digitalisierung, Verbote von Kartellen und Preisbindungen, einen liberalisierten Binnenmarkt und institutionalisierte Kooperationen mit der EU und der Nato.
Fatalerweise zehrt die Schweiz seit Jahrzehnten von ihrer volkswirtschaftlichen Substanz – und sie tut dies ganz einfach, weil sie es noch immer kann. So floss auch die seit dem Ende des Kalten Krieges angefallene Friedensdividende praktisch vollumfänglich in Sozialausgaben und Subventionen statt in Investitionen.
Der im Auftrag der Regierung verfasste Sparbericht von Serge Gaillard ist ein weiteres Beispiel für den Weg des geringsten Widerstands und Verzichts auf relevante Reformen. Es wird an runden Tischen nicht das diskutiert und verhandelt, was der qualitativen und quantitativen Faktenlage entspricht und volkswirtschaftlich notwendig und zielführend wäre, sondern das, was der politisch kleinste gemeinsame Nenner ermöglicht.
Sozialausgaben, Subventionen und Protektionismus zahlen sich bei der jeweiligen Klientel wie Bauern, Gewerbe, Gewerkschaften und Rentenbezüger in Wählerstimmen aus. Hingegen engagiert sich die Politik nicht für Investitionen in kritische Infrastrukturen, da im Wahlzyklus deren Kosten und Schulden anfallen, während sich die Erträge in Form von höherem Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität über mehrere Wahlzyklen erstrecken.
Der Staat ist kein Privathaushalt
Bei den Themen Schulden, Sparen, Konsum und Investitionen von Privathaushalten, Unternehmen und Staaten argumentiert die Politik gerne populistisch. So schmückte sich der frühere deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble während der Eurokrise mit der tugendhaften Sparsamkeit schwäbischer Hausfrauen.
Es ist aber eine ökonomische, rechtliche und regulatorische Realität, dass Staaten mit eigenen Notenbanken und Währungen bezüglich Liquidität, Solvenz, Zinskosten und Fristigkeiten ganz andere Konditionen und Spielräume haben als ungleich limitiertere Personen und Unternehmen.
Angesichts der überfälligen Investitionen wird die Schweiz nicht darum herum kommen, die Sparanstrengungen um ein Vielfaches zu steigern und die Schuldenbremse zu reformieren. Laufende Ausgaben und Investitionen müssen in der Staatsrechnung getrennt werden – und für Letztere soll der Kapitalmarkt genutzt werden, wie dies über die Emission von Infrastruktur- oder Defense-Bonds möglich wäre.
Die Schuldenbremse benötigt eine Reform
Zwanzig Jahre nach ihrer Einführung ist die Schuldenbremse reif für eine Reform. Sie ist zu eng gefasst. Es empfiehlt sich, es mit John Maynard Keynes zu halten: «When the facts change, I change my mind». In Deutschland ist die Diskussion um die überfällige Reform der Schuldenbremse bereits entfacht und wird mit dem anstehenden Regierungswechsel wohl Realität werden.
In der Schweizer Politik wäre Realitätssinn und Führung gefragt. Regierung und Parlament sollten sich für rigorose Lageanalysen, klare Zielsetzungen, messbare Strategien, effiziente Umsetzungen und zeitgerechte Kurskorrekturen engagieren.
Leider zeigt die Vergangenheit, dass es oft exogene Anstösse braucht, um dem schädlichen Nichtstun und Prinzip Hoffnung als Strategie ein Ende zu setzen.
Beat Wittmann
Beat Wittmann ist seit 2015 Chairman und Partner der in Zürich domizilierten Corporate Advisory Firma Porta Advisors. Er blickt auf eine über 35-jährige Karriere im internationalen Kapitalmarktgeschäft zurück, die ihn unter anderem zu den Schweizer Grossbanken UBS und Credit Suisse/Clariden Leu sowie zu Julius Bär und zur Raiffeisen Gruppe geführt hat. Im 1985 Master-Abschluss in Wirtschaftswissenschaften an der Universität Basel.