Die genuine amerikanische Kultur basierte auf Formen von Aneignung. Das Beispiel des Cakewalks zeigt, wie selbst rassistische Komik und Persiflage zu gegenseitiger Annäherung führen.
James ist auf der Flucht. Er ist der Herrin entlaufen, die ihn hat weiterverkaufen wollen. Auf dem Weg in Richtung Norden, wo es keine Sklaverei mehr geben soll, hält er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Einmal tritt er gemeinsam mit Weissen in einem Chor auf. Alle schwärzen sich das Gesicht, um Sklavenlieder zu singen und die Schwarzen nachzuäffen.
Von einem Freund erfährt James dann, dass solche Minstrel-Bands auch den Tanz der Afroamerikaner, den sogenannten Cakewalk, imitierten. «Aber das ist doch unsere Art, sich über die Weissen lustig zu machen», sagt James erstaunt. «Ja, aber das kapieren sie nicht – es bleibt ihnen verborgen. Ihnen ist nie der Gedanke gekommen, dass wir sie vielleicht lächerlich finden könnten», antwortet der Freund.
James ist der Protagonist des gleichnamigen, 2024 erschienenen Romans von Percival Everett. Die Figur stammt eigentlich aus Mark Twains Klassiker «The Adventures of Tom Sawyer». Der afroamerikanische Schriftsteller aber hat Twains Jim in James verwandelt, der als intellektueller Autodidakt sämtliche Klischees eines Sklaven unterläuft.
Tanzen auf der Plantage
So stellt er sich auch kulturtheoretische Fragen wie diese: «Was geschieht, wenn die Weissen die Schwarzen parodieren, die gerade die Weissen parodieren? Wird die Ironie so neutralisiert?» Eine schlüssige Antwort bleibt er den Lesern schuldig, weil er sich gleich ins nächste Abenteuer stürzen muss. Sonst hätte er im Wechselstrom der Parodie ein Ur-Moment genuin amerikanischer Kultur erkennen können: eine Dialektik kultureller Aneignung.
Die Zeugnisse des Cakewalks reichen ins 18. Jahrhundert zurück. Die «South Caroline Gazette» etwa berichtete 1772 von einem Volkstanz von sechzig Sklaven. Die Männer hätten das Benehmen ihres «Masters», die Frauen dasjenige ihrer «Mistress» nachgespielt. 1843 schilderte der Poet William Cullen Bryant einen Cakewalk, dem er auf einer Plantage in South Carolina beiwohnte: Es habe ein bisschen ausgesehen wie eine lustige Militärparade – «a sort of burlesque of our military trainings».
Später haben Afroamerikaner den Cakewalk vermehrt selber erklärt. Shephard Edmonds zum Beispiel, ein befreiter Sklave, erinnerte sich um die Jahrhundertwende an Sonntage auf der Plantage. Zu Banjo-Klängen sei man in bald federnden, bald trampelnden Schritten herumgetanzt, um die steife Gestik der Herrschaften auf die Schippe zu nehmen. Dabei habe man sich mit altem Schmuck aufgebrezelt und Gesten wie das Ziehen des Hutes nachgeahmt.
In der einschlägigen Tanzliteratur wird überdies eine ehemalige Sklavin zitiert, die den Cakewalk ausdrücklich als parodiertes Menuett verstanden wissen wollte. Manchmal hätten die Weissen zugeschaut. Dass sie sich nicht gestört hätten am Spott, dessen Opfer sie eigentlich gewesen seien, habe daran gelegen, dass sie sich nicht wiedererkannt hätten im oft wilden und ausschweifenden Tanz der Sklaven. «I guess they thought we couldn’t dance any better.»
Spott als Subversion
Tatsächlich fanden die weissen Sklavenhalter sogar Gefallen an den tänzerischen Auftritten ihrer Sklaven. Sie veranstalteten sogar Tanzwettbewerbe: Wer sich am auffälligsten bewegte, erhielt als Preis einen Kuchen – was dem Cakewalk den Namen gegeben haben soll. Die Historiker sind sich in diesem Punkt allerdings nicht einig. Es wird mitunter auf einen Tanz in den französisch kolonisierten Antillen verwiesen, bei dem man einen Kuchen habe balancieren müssen. Der Begriff Cakewalk könnte auch darauf zurückgehen.
Wahrscheinlich handelte es sich beim Cakewalk zunächst ohnehin um ein offenes Genre, in dem sich sehr unterschiedliche Einflüsse niederschlugen: etwa auch Tanzformen aus der Karibik oder Rituale der Seminolen, eines Indianerstammes in Florida, der viele entlaufene Sklaven aufgenommen hatte. Stilbildend aber war die parodistische Verfremdung europäischer Tänze wie des Menuetts, der Quadrille und der Polka, die bald verdrängt werden sollten durch die Popularität des Cakewalks.
Man mag über den Mut der Sklaven staunen, die sich an freien Tagen mit Witz und Hohn an den Herrschaften rächten, die sie die Woche hindurch hatten rackern lassen. Die Parodie war offenbar ein psychisches Ventil und eine Form passiven Widerstands. Die Beschreibungen des Cakewalks insinuieren allerdings kein höhnisches Draufgängertum, sondern eine überraschend friedliche Szenerie: Sonntag auf der Plantage, die sklavische Belegschaft trifft sich draussen zum tänzerischen Verlustieren – wohlwollend beobachtet von den weissen Farmern, die zuletzt einen Kuchen auftischen lassen wie an einem Kindergeburtstag.
Das scheinbare Idyll passt nicht in das übliche Bild von Sklaverei und Rassismus. Erst 1865 ist die Sklaverei in den USA verboten worden, darauf folgten Jahrzehnte faktischer Apartheid. Die schwarze Bevölkerung konnte sich in den USA erst im 20. Jahrhundert allmählich emanzipieren. Von afroamerikanischen Kulturtheoretikern wie Amiri Baraka wird der Cakewalk deshalb auf seine subversive Tendenz reduziert. Aber vielleicht erlaubte die sonntägliche Musse auch noch mehr.
Der Bürgerrechtskämpfer W. E. B. Du Bois hat Ende des 19. Jahrhunderts das doppelte Bewusstsein («double consciousness») der afroamerikanischen Bevölkerung beklagt – einen Komplex, wonach sich die Schwarzen von einer böswilligen geistigen Instanz, einer Art weissem Über-Ich, quälen lassen, die im eigenen Handeln die Bestätigung rassistischer Klischees zu sehen glaubt. Wenn sie im Tanz nun aber elegante Damen und Gentlemen spielten, konnten sie für einen Moment zwar nicht aus der eigenen Haut schlüpfen, aber immerhin aus der Zwangsjacke rassistischer Projektionen.
Und wahrscheinlich machte es bei allem Hohn durchaus auch Spass, sich als vornehme Herrschaften in Szene zu setzen. Das emanzipatorische und therapeutische Potenzial des Cakewalks zeigte sich darin, dass die parodistischen Choreografien sich Ende des 19. Jahrhunderts zu künstlerischem Ausdruckstanz entwickelten. Cakewalk-Stars wie die Tänzerin Aida Overton Walker verlangten von sich einerseits Virtuosität und Körperbeherrschung: «Every muscle must be in perfect control» – andrerseits auch eine positive Ausstrahlung: «The success of cake-walking depends largely on temperament.»
Untere Region der Hackordnung
Die Komik wechselte nun die Seite. Das weisse amerikanische Entertainment erlebte im 19. Jahrhundert einen Boom in der Minstrel-Bewegung. Schwarz geschminkte Minstrels (meistens Weisse, manchmal aber auch dunkel geschminkte Schwarze) parodierten zur Belustigung die Gesänge und Tänze der Sklaven. Dass das gut ankam beim weissen Publikum, lag an seiner sozialen Herkunft: Es handelte sich um Plantagearbeiter und städtische Proletarier, die es genossen, höhnisch und rassistisch auf die schwarze Minderheit herabzublicken. Und es bereitete ihnen ein besonderes Vergnügen, wenn in Minstrel-Shows der Cakewalk als wildes Spektakel inszeniert wurde.
Aber auch dieses Rollenspiel zeitigte unterschiedliche Wirkungen. Die Afroamerikaner wurden zunächst auf Klischees reduziert. Der weisse Rassismus stellte sie als kindlich-ausgelassene Wesen dar, die stets sangen und tanzten, weil ihnen nichts Würdigeres in den Sinn kam. Und statt in den Moves des Cakewalks die Karikatur herrschaftlichen Benehmens zu erkennen, missdeutete er sie offenbar als etwas Afrikanisches oder Animalisches.
Der Schwarze als tanzender und singender Bimbo wurde zum rassistischen Stereotyp, das den Weg in zahllose Karikaturen fand. Berühmt-berüchtigt ist das Bild des Cakewalk tanzenden Jim Crow, das auf Postkarten und Zeitungen grosse Verbreitung fand. Jim Crow hat einem rassistischen Regelwerk den Namen gegeben, das der Aufrechterhaltung der Rassentrennung diente. Erst mit der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre konnte die Jim-Crow-Ära überwunden werden.
Über die rassistischen Absichten hinaus hatte die Imitation des Cakewalks noch ganz andere Wirkungen. Im Cakewalk gab es mehr Paartänze als in traditionellen Tänzen, man kam sich so plötzlich viel näher. Es war überdies ein Vergnügen, die viktorianische Disziplin abzulegen, um dem eigenen Körper sinnlichere Bewegungen zu erlauben. Dank dem Comedy-Etikett waren die weissen Tänzer jedoch vor moralischen Bedenken geschützt.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sorgten Minstrels sowie immer mehr Vaudeville-Shows afroamerikanischer Tänzerinnen und Tänzer dafür, dass sich der Cakewalk zu einer Massenkultur auswuchs. Die Tänze, unterdessen durch die synkopischen Rhythmen von Ragtime und frühem Jazz getragen, eroberten die Halbwelt der Bars und Bordelle, später auch die mondänen Ballrooms und Theater. Die «New York Times» berichtete 1883 über einen Cakewalk in «McGlory’s Armery Hall», an dem 2000 Tänzerinnen und Tänzer teilnahmen.
1895 fand im Madison Square Garden eine Championship unter 5000 Konkurrenten statt. Noch handelte es sich mehrheitlich um Afroamerikaner. Der Anteil weisser Tänzer stieg aber rasch – wobei sich viele unter ihnen das Gesicht schwarz färbten. Mit etwas Verspätung wurde auch Europa vom Cakewalk-Fieber angesteckt. In der Alten Welt lernte man den Tanz aus Stummfilmen wie «Uncle Tom’s Cabin» kennen. Auch Claude Debussy liess sich inspirieren und komponierte 1908 «Gollywog’s Cakewalk».
Positive Aneignung
Ende des 19. Jahrhunderts erging es dem Cakewalk dann ähnlich wie später dem Jazz: Mit der wachsenden Präsenz weisser Tänzer gingen Schwung und Vitalität allmählich verloren. Tatsächlich wurden die typischen Moves des Cakewalks, die «slides», «kicks» und «struts», von weissen Tanzlehrern in den gemächlicheren Bewegungen des Foxtrotts gezähmt, der bald die Tanzmode bestimmte.
Gleichwohl reichte der Einfluss des Cakewalks noch weit ins nächste Jahrhundert hinein – bis zu den Showelementen des Rhythm’n’Blues und den Tänzen des Rock’n’Rolls. Und noch 2018 setzt sich der amerikanische Rapper und Schauspieler Childish Gambino in seinem aufsehenerregenden Video «This Is America» als Jim-Crow-Wiedergänger in Szene. Und mit Cakewalk-Moves weist er auf die Trägheit des Rassismus hin.
Der Cakewalk empfiehlt sich aber auch als anschauliches Beispiel dafür, wie sich die amerikanische Kultur in Phasen kultureller Aneignung herausgebildet hat. Dabei ging es offenbar weniger um «Diebstahl» traditioneller Ausprägungen als um eine dialektische Entwicklung, die selbst in diskriminierender Tendenz noch Effekte gegenseitiger Annäherung und Inspiration zeitigte. So mochten die Minstrels das Klischee des schwarzen Entertainers mitprägen. Längst aber haben afroamerikanische Künstlerinnen und Künstler die Projektion in eine Berufung umgemünzt. Und seit Jahrzehnten dominieren sie die amerikanische und die internationale Pop-Musik.