Zahlen des Bundesamtes für Statistik zeigen, dass fast die Hälfte der Schweizer Bevölkerung in der Agglomeration lebt. Doch noch immer prägt das Dorf das Schweizer Selbstbild. Ein Erklärungsversuch.
Das Dorf dominiert das Schweizer Selbstverständnis. Es ist ein Selbstverständnis wie aus der Volg-Werbung. Kühe trotten über die Hauptstrasse. Bauern stehen frühmorgens zufrieden im Stall. Kinder spielen am Dorfbrunnen und verschlingen das Obst, das neben ihren Häusern wächst. Kirschen des Bauern Meier, Müller, Mustermann.
So weit die Werbung. In der Realität spielt sich das Leben der meisten Schweizerinnen und Schweizer nicht zwischen Kirschbäumen, Kuhglocken oder kleinen Gehöften ab. Sondern in der Agglomeration. Das zeigen Zahlen, die das Bundesamt für Statistik (BfS) diese Woche veröffentlicht hat.
Der Grossteil der Schweizer Bevölkerung lebt in engen 4,5-Zimmer-Wohnungen in schnöden Blöcken. Oder gleich in der nächsten Querstrasse, in der Reihenhaussiedlung, mit Steingärten und zwei Autos in der Auffahrt. Willkommen in der Agglomeration, wo alle vier Minuten ein Bus in die Stadt fährt und Plattenbauten neben geräumigen Fertighäusern stehen.
4,1 Millionen Menschen wohnen laut BfS in dem Raum, der nicht zum Land, aber auch nicht wirklich zur Stadt gehört. Das sind 47 Prozent der Bevölkerung. Auf dem Land leben laut dem BfS nur 14 Prozent der Schweizer Bevölkerung.
In der Werbung, der Selbstwahrnehmung, der Verklärung ist die Schweiz ein Dorf. Literatur, Kunst, Musik und Filme haben zur Idealisierung des Ländlichen beigetragen. Dabei müsste die Schweiz längst eine grosse Agglo sein.
Globi war noch nie in der Agglo
Charles Ferdinand Ramuz überhöhte als einer der Ersten die Dörfer des Lavaux und des Wallis. Ernest Biéler und Ferdinand Hodler malten die passenden Bilder. Sie priesen eine ländliche, dörfliche Idylle. Das war Anfang des letzten Jahrhunderts. Doch all das wirkte nach. Andere Autorinnen und Künstler führten ihren Ansatz fort und schufen ein eidgenössisches Selbstporträt, sie kultivierten das Selbstverständnis einer ländlichen Schweiz.
Alex Capus und Pedro Lenz wandten sich in ihren Büchern später der Stadt zu. Sie schrieben über den familiären Geist in den alten Arbeiterquartieren, die Beizen und Geschäfte, in denen sich alle kannten und die es heute kaum noch gibt. Selbst in dieser städtischen Literatur blieb die Schweiz ein Dorf.
Das gleiche Bild bietet sich in der populären Kultur oder der Werbung. Globi, der berühmteste Schweizer Kinderbuchheld, reiste in seinen Büchern schon mehrmals um die Welt, verbrachte den Sommer auf der Alp, suchte in Madagaskar nach einem ausgestorbenen Riesenvogel. Doch in der Schweizer Agglo, in Wohlen, Buchs, Monthey, hat er bisher kein Abenteuer erlebt.
Vielleicht liegt es daran, dass die Agglo sich schwer fassen lässt. Wo fängt sie an, wo hört sie auf? In künstlerischen Auseinandersetzungen, vor allem aber im gesellschaftlichen Bewusstsein, ist sie kaum ein Thema. Was kann man über sie sagen, schreiben, malen? Vielleicht taugt sie, anders als das Dorf oder die Stadt, nicht zur Projektionsfläche.
Klar ist: Die Agglo sprengt die eidgenössische Bipolarität von Stadt und Land. Weil die Bevölkerung über Jahrzehnte wuchs, schwand in den Städten der Platz. Die Agglomerationen entstanden. Sie machten es nötig, dass das BfS neben Stadt und Land eine dritte Kategorie einführte.
Die Agglo vereinheitlicht die Schweiz
Eigentlich war die Unterteilung der Schweiz in Stadt und Land schon 1930 veraltet. Damals definierte das BfS erstmals, was das grosse Dazwischen, die Agglomeration, eigentlich ist. In der Definition hiess es, die Agglomeration habe einen baulichen Zusammenhang mit den Städten. Viele Bewohner würden von der Agglo zur Arbeit in die Stadt fahren, und nur äusserst wenige seien Bauern.
Oder wie die Leute in der Stadt und auf dem Land sagen: In die Agglo geht man, um zu schlafen.
Seit dem Zweiten Weltkrieg erlebte die Schweiz ein rasantes Bevölkerungswachstum. In den Schweizer Agglomerationen entstanden ab den 1950er und 1960er Jahren Neubausiedlungen. Für Arbeiterfamilien, die sich die Stadt nicht mehr leisten konnten. So wie in Schlieren. Später kamen komfortablere Wohnhäuser hinzu. Dieses Mal für Angestellte im Dienstleistungssektor, die vom Wohnzimmer aus den Zürichsee sehen wollten und aus dem Stadtzentrum nach Wädenswil zogen.
Die Häuser, die ab den 1950er Jahren in den Agglomerationen entstanden, haben drei oder vier Stockwerke, identische Dachstühle, Grundrisse, Farben. Egal ob Bümpliz, Dübendorf oder Emmenbrücke, überall sieht es gleich aus.
Die Agglomeration brachte eine schlichte und einheitliche Schweizer Architektur hervor. Anders auf dem Dorf. Hier verrät schon die Architektur der alten Häuser die Kantonszugehörigkeit.
Im Berner Oberland sind die Häuser niedrig und aus Holz gebaut. Die Giebel haben einen stumpfen Winkel. Im Zürcher Oberland sind sie höher und aus Stein. Sogar die Grenze zwischen Appenzell Innerrhoden und Ausserrhoden lässt sich anhand der Fassaden der alten Bauernhäuser erahnen. Sie sind schlichter in Herisau und bunter in Haslen, im Kanton Appenzell Innerrhoden.
Gerade weil in der Agglo Unterschiede, aber auch Eigenheiten verschwimmen, werden ihre Bewohner von selbstbewussten Städtern und traditionsverbundenen Dörflern belächelt. Sie werden hoch-, aber nicht ernst genommen. Das Urteil aus dem Dorf und aus der Stadt lautet: Der Agglo fehlt jede Identität.
Der Agglo-Komplex
Laurin Buser, ein Baselbieter Slam-Poet, schrieb 2015 in der NZZ einen Text über seine Kindheit in der Agglo. Darin stand: «Es ist, als wärst du das Gürkli im Cheeseburger: immer dabei, aber niemand findet, dass es dazugehört.»
Dörfler und Städter machten sich im Ausgang über die Jugendlichen aus der Agglo lustig. Darum, so schreibt Buser, hätten sie einen Komplex entwickelt und angefangen, sich zu verleugnen. Sie wollten entweder Dörfler oder Städter sein. Hauptsache ein Ganzes.
Weil sich die Schweiz seit den 1970er Jahren stark verändert hat, justierte das BfS 1980 seine Definition der Agglomeration. Typisch für die Agglo war neu, dass die Bevölkerung hier überdurchschnittlich anstieg und dass sie viele Arbeitsplätze bot. Das BfS brauchte also neue Charakteristika, um das Dazwischen zu beschreiben. Inzwischen hat es seine Kriterien mehrfach angepasst, weil einige Vororte von früher selbst zu Städten heranwuchsen.
In der Agglo entstanden kleinere, regionale Zentren. Mit Jobs, Freizeitangeboten, kulturellen Aktivitäten. Die Menschen kamen nicht mehr bloss zum Schlafen her, sie blieben auch tagsüber. Neben den grossen, alten Städten entstanden neue. Einige Medien sprechen von der «Verstädterung der Schweiz».
Das geschieht derzeit in Zürcher Vorstädten wie Dübendorf. Die Café-Dichte steigt, die Mietpreise auch. Es heisst, Dübendorf werde gentrifiziert. Der Volksmund hat die Gemeinde bereits umgetauft. In «Dübai».