Die Nato-Generäle wünschen sich die Wehrpflicht zurück. Die Schweizer Armee wäre ein Vorbild dafür, wie das funktionieren könnte. Doch ohne genug Geld hat die Milizarmee keine Chance.
Der hybride Krieg Russlands gegen die liberalen Demokratien begann 2007 mit einem Angriff auf Estland: Wolken von Desinformation verunsicherten die Bevölkerung, die russische Minderheit wurde vom russischen Nachrichtendienst aufgehetzt, Cyberattacken legten die Server der estnischen Behörden lahm. Der Kreml testete seine «aktiven Massnahmen», die er heute auch gegen die Schweiz einsetzt.
Das Ende der sowjetischen Besatzung Estlands war damals erst 16 Jahre her. Schon wieder bedrängte der Kreml die Unabhängigkeit der baltischen Staaten. Noch glaubte kaum jemand in Europa, dass Wladimir Putin die alte imperiale Politik reaktivieren würde. Doch Estland setzte sich energisch zur Wehr – und führte ein Jahr später, nachdem Russland mit Panzern in Georgien einmarschiert war, die Wehrpflicht wieder ein.
Es ist deshalb wenig verwunderlich, dass der estnische Verteidigungsminister Hanno Pevkur wenig bis kein Verständnis für die zögerliche Nachrüstung der reichen westeuropäischen Staaten aufbringt: «Wenn der Bierpreis wichtiger ist als die Freiheit, dann landen wir bei einem Prozent Bruttoinlandprodukt (BIP) für die Verteidigung», brachte Pevkur Anfang November am ersten Prager Verteidigungsgipfel die Sache auf den Punkt.
Fehlende Durchhaltefähigkeit der Nato-Armeen
Die Aussage richtete sich nicht direkt an die Schweiz, klingt aber wie ein Weckruf in Richtung Alpen. Die Nato-Staaten haben sich längst vom Richtwert, zwei Prozent des BIP für die Verteidigung auszugeben, verabschiedet. Sie haben das Ziel erhöht und streben jetzt drei Prozent an. Die Schweiz dagegen, das reichste Land Europas, steht gegenwärtig bei 0,8 Prozent. Noch immer knorzt die Politik daran herum, eine Erhöhung auf 1 Prozent des BIP bis 2030 zu finanzieren.
Die Diskrepanz zwischen den sicherheitspolitischen Sorgen insbesondere der nordosteuropäischen Länder und dem, was die Schweiz bewegt, könnte kaum grösser sein. Im «Blick» beklagte sich diese Woche ein Ferienhausbesitzer darüber, dass der sanfte Ausbau des Artillerie-Schiessplatzes auf dem Simplon seine Ruhe stören könnte. In Prag ging es darum, wie die Nato eine effektive gemeinsame Antwort auf die Bedrohung durch Russland finden könnte.
Das International Institute for Security Studies (IISS), das zusammen mit dem tschechischen Präsidenten Petr Pavel zum Gipfel eingeladen hatte, veröffentlichte gleichzeitig eine Untersuchung über den Aufbau der Verteidigungsbereitschaft in Europa. Darin werden unter anderem die Lücken in der Bewaffnung der einzelnen Armeen aufgezeigt. Der Schwerpunkt der Diskussionen lag deshalb über weite Strecken auf Rüstungsfragen.
Die vielleicht grösste Herausforderung stellt allerdings der Faktor Mensch dar. Die Streitkräfte der wichtigsten Nato-Länder sind weiterhin unterbesetzt. Die europäischen Berufsarmeen seien nicht in der Lage, genügend qualifiziertes Personal zu rekrutieren und dieses auch zu halten, stellt die Studie fest. Die Durchhaltefähigkeit der Nato in einem grösseren Krieg ist gegenwärtig ungenügend.
Unterschiedliche Miliz-Modelle
Die IISS-Studie empfiehlt deshalb dringend die Rückkehr zur Wehrdienstpflicht und verweist auf die Erfahrungen der skandinavischen und der baltischen Staaten. Ein gewichtiger Vorteil dessen, einen breiten Teil der Bürgerinnen und Bürger wieder militärisch auszubilden, sei, das Bewusstsein für die Herausforderungen der nationalen Sicherheit zu schärfen und «die gesellschaftliche Widerstandskraft» zu stärken.
Eine Vorstellung der vergangenen Jahr scheint sich definitiv als Illusion entpuppt zu haben: Die Kompensation der Masse durch Technologie funktioniert in einem hochintensiven, längeren Krieg nicht.
Die meisten Nato-Länder schafften die Wehrpflicht erst in den 2000er Jahren ab. Im Norden Europas hielt nur Finnland die militärische Bereitschaft wegen der langen Grenze zu Russland unbeirrt so hoch wie möglich, teilweise auch Norwegen und Dänemark. Die Türkei mit ihrem eigenen Machtanspruch im östlichen Mittelmeer blieb ebenfalls bei der Wehrpflicht, dazu Griechenland, das seinerseits dem Nato-Partner Türkei misstraut.
Unterdessen verstärken Schweden und alle drei baltischen Staaten ihre Armeen wieder mit Bürgerinnen und Bürgern in Uniform. Kleinere Nato-Staaten wie Tschechien oder die Niederlande wünschen sich ebenfalls, im Notfall auf eine Reserve zurückgreifen zu können: «Wir müssen etwas ändern, um mobilisieren zu können», sagte der tschechische Generalstabschef in Prag: «Das ist die bittere Wahrheit.»
Die stark vereinfachte Übersicht zeigt den gegenwärtigen Stand der Wehrpflicht in Europa:
Die einzelnen Modelle sind aber nur bedingt miteinander vergleichbar, wie allein die Unterscheide zwischen der Schweiz und Österreich zeigen. Beide Länder hielten nach dem Kalten Krieg auf dem Papier an der bewaffneten Neutralität und damit auch an ihrem Milizsystem fest. Doch das österreichische Bundesheer bietet diejenigen, die nicht sowieso den Zivildienst wählen, nur für den Grundwehrdienst auf. Die Schweizer Armee dagegen basiert fast ausschliesslich auf der Miliz – inklusive Führungsverantwortung bis teilweise auf die Stufe Brigade.
Intakter Kern der Schweizer Verteidigungsbereitschaft
Bei aller Kritik an der sicherheitspolitischen Sorglosigkeit der Schweiz: Die Voraussetzungen für eine umfassende Landesverteidigung sind deshalb im internationalen Vergleich immer noch auf einem hohen Niveau:
- Miliz: Ein Teil der Bevölkerung ist weiterhin der Landesverteidigung und teilweise auch dem Zivilschutz persönlich verpflichtet. Die einfachen Hürden für den zivilen Ersatzdienst haben aber die Wehrpflicht verwässert. Der Militärdienst ist faktisch freiwillig geworden. Es fehlen deshalb auch Teile der Bevölkerung im System – etwa aus den urbanen Zentren. Trotzdem ist die Milizarmee ein Kern der Resilienz und des Aufwuchses. Wäre der politische Wille bei einer erhöhten Bedrohung stark genug, könnte die Anzahl ausgebildeter Armeeangehöriger rasch erhöht werden – etwa mit einer Verlängerung der Dienstpflicht.
- Kompetenzerhalt in der Verteidigung: Auch wenn die Ausrüstung der Bodentruppen veraltet ist und nur noch sechs schwere Kampfbataillone vorhanden sind, kann die Schweizer Armee weiterhin das «Gefecht der verbundenen Waffen» üben. Anders als praktisch alle anderen Streitkräfte verschob die Schweiz den militärischen Fokus nicht auf Stabilisierungseinsätze im Ausland. Die Schweizer Milizoffiziere werden deshalb primär in den Grundsätzen der aktiven Verteidigung ausgebildet: in der Kombination defensiver und offensiver Aktionen.
- Rüstungsindustrie: Trotz Rückbau und misslicher Gesetzeslage wird in der Schweiz weiterhin ein breites Spektrum an Kriegsmaterial hergestellt und auch entwickelt. Der Skyranger, ein gepanzertes System für die Luftverteidigung, ist ein Produkt der Rheinmetall-Produktionsstätte Zürich. Die Piranha-Radschützenpanzer stammen aus Kreuzlingen, obschon die Mowag an einen amerikanischen Konzern verkauft worden ist. Besonders stark ist die Schweiz im Dual-Use-Bereich, bei Drohnen und in der Robotik. Nicht zu unterschätzen ist auch das Potenzial des bundeseigenen Rüstungsbetriebs Ruag MRO Schweiz.
Insgesamt ist in der Schweiz ein hohes Mass an Wissen vorhanden: militärisch und technologisch. Es steht ein solides Fundament zur Verfügung, das als Chance genutzt werden könnte, auch im internationalen Kontext.
Gerade die Erfahrung mit dem Milizsystem ist gegenwärtig gefragt: Die Schweizer Berufsmilitärs haben die wohl breiteste Erfahrung im Westen Europas dazu, wie junge Menschen (auch unter den gesellschaftlichen Voraussetzungen der Gegenwart) innert kürzester Zeit zu Soldaten ausgebildet werden können. Die Bürgerinnen und Bürger in Uniform müssen ihr Handwerk im Einsatz ebenso professionell können wie ihre vom Staat angestellten Kameraden.
Der Druck auf die Schweiz dürfte zunehmen
Auch das Mobilmachungssystem, das 2017 mit der letzten Armeereform wieder eingeführt worden ist, hat sich bewährt: Als der Bundesrat alle Sanitäts- und Spitalsoldaten zum Pandemie-Dienst aufgeboten hatte, rückten praktisch alle ein – selbst diejenigen, die den Ausbildungsdienst schon hinter sich hatten. Auch die Logistik hat funktioniert: Innerhalb weniger Stunden war die Miliz bereit.
Diese Pluspunkte gehen in der zähen Debatte um die Armeefinanzen oder das Kriegsmaterialgesetz oft unter. Umgekehrt reicht eine gut organisierte Ausbildungsarmee nicht aus, um einen kriegerischen Akt auf die Schweiz oder ihr unmittelbares Umfeld zu verhindern. Dahin ist die vollständige Ausrüstung und sanfte Modernisierung der bestehenden Armee bloss ein erster Schritt. Erst dann beginnt der eigentliche Aufbau.
Der Druck auf die Schweiz dürfte steigen, ihren Beitrag zur Sicherheit Europas rasch signifikant zu erhöhen. Wenn die Nato ihre Präsenz an der Ostflanke erhöht, ist sie auf genügend Strom für den Bahntransport der Kampfverbände mitsamt Ausrüstung angewiesen. Solange die Lücken bei der Luftverteidigung nicht geschlossen sind, bleiben die kritischen Infrastrukturen wie Knotenpunkte des europäischen Stromnetzes in den Alpen opportune Ziele für einen Gegner.
Das heisst konkret, dass sich die Diskussion bald nicht mehr um die Nachrüstung drehen wird, sondern um eine echte Aufrüstung. Doch die Politik lärmt lieber, das Verteidigungsdepartement habe keinen Plan, wofür es mehr Geld brauche. Lieber leistet sie sich den Luxus der Polemik, statt die Soldaten auch ernsthaft auszurüsten. Denn sie kämpfen im Ernstfall auch unter Einsatz ihres eigenen Lebens.
In Prag hängte der estnische Verteidigungsminister an seine launige Bemerkung über den Bierpreis und die Freiheit eine ernsthafte Forderung an: Es sei halt eine Frage der politischen Führung, ob ein Land genug in die Verteidigung investiere. Gemeint waren wohl vor allem die Westeuropäer. In der Schweiz fehlt bis jetzt der Mut, die gute Ausgangslage zu nutzen, um wenigstens eine minimale souveräne Dissuasion wiederherzustellen.