Kindswegnahmen, zerrissene Familien, Verwahrungen: Ein Rechtsgutachten qualifiziert die Verfolgung der Schweizer Jenischen als systematischen Angriff gegen die Zivilbevölkerung. Auch von «genozidären» Handlungen ist die Rede.
Stellt die systematische Verfolgung der Volksgruppe von Jenischen und Sinti durch staatliche und parastaatliche Institutionen ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar? Oder wurde gar ein Genozid verübt?
Diesen Fragen geht ein heute publiziertes Rechtsgutachten im Auftrag des Bundes nach. Der Völkerrechtsexperte Oliver Diggelmann von der Universität Zürich wählt darin deutliche Worte: «Es sprechen sehr starke Gründe dafür, dass die Verfolgung Jenischer nach Massgabe heute geltender völkerrechtlicher Standards als Verbrechen gegen die Menschlichkeit qualifizierbar ist.» Diggelmann sieht im Verhalten des Staates eine Komplizenschaft und bezeichnet das internationale Verbrechen «als dem Staat zurechenbar».
Der Schweizer Staat trägt Schuld an Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Aber kann die Leidensgeschichte der Jenischen und Sinti als Genozid bezeichnet werden?
Das Rechtsgutachten verneint diese Frage. Als Grundlage zur Beurteilung diente unter anderem die historische Aufarbeitung der Aktion «Kinder der Landstrasse». Das Hilfswerk «Pro Juventute» hatte in den Jahren 1926 bis 1973 etwa 600 Kinder ihren Eltern entrissen. Mit drakonischen Massnahmen versuchte man zu verhindern, dass Kinder und Eltern wieder zusammenfanden. Der Bund unterstützte das Hilfswerk mit substanziellen Beiträgen und hiess dessen Ziele gut: Nämlich die Bekämpfung der fahrenden Lebensweise von Jenischen und Sinti.
Gab es eine «genozidäre Absicht»?
Dieser Vorgang war für die Gutachter wichtig, um die Frage zu beurteilen, ob ein Genozid verübt wurde. Denn die «gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere» ist eines der Merkmale des Tatbestandes laut Völkerrecht. Die Fremdplatzierung von Kindern, Massnahmen zur Geburtenverhinderung, sowie teilweise dokumentierte Sterilisationen qualifiziert das Gutachten als so genannt genozidäre Handlungen. Trotz dieses schweren Unrechts kommt Diggelmann zum Schluss, dass die Verfolgung der Jenischen nicht als Genozid einzustufen ist: «Die bekannten Fakten lassen keinen Schluss auf eine genozidäre Absicht im Sinne der Genozidkonvention zu.»
Anders gesagt: Nach jetzigem Wissensstand kann nicht nachgewiesen werden, dass die Täterschaft, zu der auch der Schweizer Staat gehört, die Absicht hatte, die Volksgruppe der Jenischen auszurotten. Die damals zwangsweise verordneten Massnahmen zielten laut Gutachten eher auf Assimilation und Umerziehung der Volksgruppe ab – insbesondere die Bekämpfung der «Vagantität», also der fahrenden Lebensweise.
«Niemand darf unsere Geschichte verdrehen»
«Die Anerkennung unserer Geschichte als Verbrechen gegen die Menschlichkeit stösst eine Türe auf, die ganz lange verschlossen war», sagt die jenische Schriftstellerin Isabella Huser. Das Gutachten halte erstmals offiziell fest, dass die Schweiz mit der Verfolgung der Jenischen inhumane Akte an der eigenen Zivilbevölkerung begangen habe. «Jetzt kann die ganze Tragweite sichtbar gemacht werden. Niemand darf nun unsere Geschichte mehr verdrehen», sagt Huser.
«Konsterniert» war Huser allerdings, als sie gestern einen Brief von Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter erhielten, die ihnen das Resultat des Gutachtens verkündete. «Im Brief stellte die Bundesrätin abermals das Schicksal von Opfern von Zwangsmassnahmen und Verdingkindern mit unserer Geschichte auf eine Stufe», sagt Huser. Keller-Sutter blende aus, dass es um die systematische Verfolgung einer bestimmten Volksgruppe gehe. «Genau darum geht es ja im Gutachten von Diggelmann.»
Dass sich manche Jenische auch eine Anerkennung ihrer Geschichte als «kultureller Genozid» gewünscht hätten, versteht Huser. Trotzdem sagt sie: «Der Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit wiegt genauso schwer, wie jener des Genozids.»
Diggelmann schreibt zum Begriff des «kulturellen Genozids» im Gutachten: «Es existiert kein Tatbestand des kulturellen Genozids und bei der genozidären Absicht genügt die Absicht ‹bloss› kultureller Vernichtung nicht.» Damit bezieht sich der Völkerrechtler auf die Entstehung des Genozid-Begriffes. Damals wurde von einem kleineren Teil der Rechtswissenschaft vergeblich argumentiert, dass auch die Zerstörung der Kultur einer Volksgruppe zu deren Auslöschung führe und darum auch ein «kultureller Genozid» im Völkerrecht aufgenommen werden solle.
Viele offene Fragen
Fünfzig Jahre ist es her, seit das letzte jenische Kind seinen Eltern weggenommen wurde. Über vier Jahrzehnte wurde die Verfolgungsgeschichte der Jenischen und der Sinti politisch und historisch aufgearbeitet. Und dennoch liegt die Verantwortung etwa von kantonalen Behörden und kirchlichen Institutionen mehrheitlich im Dunkeln. Auch Diggelmann betont in seinem Gutachten, dass viele Fragen noch ungeklärt sind und historische Forschung fehle. Etwa jene nach der Verantwortung für Zwangssterilisationen, denen Frauen unterzogen wurden, um Geburten zu verhindern.
Der Bund will laut Stellungnahme mit den Betroffenen bis Ende 2025 klären, ob noch «weiterer Bedarf zur Aufarbeitung der Vergangenheit» bestehe.