Indien hat sich noch nicht entschieden, wer an den Friedensgipfel in die Schweiz reist. Dabei könnte das Land ein Vermittler sein.
Wenn sich am Wochenende auf dem Bürgenstock die Vertreter aus über 90 Ländern zur Ukraine-Konferenz treffen, wird auch Indien dabei sein. Nur: Es ist noch immer offen, mit was für einer Delegation. Das indische Aussenministerium will sich auch wenige Tage vor dem Gipfel noch nicht festlegen, ob ein hochrangiger Vertreter anreist. Fast sicher ist, dass der Premierminister Narendra Modi nicht in die Schweiz kommen wird.
Erst vergangene Woche fanden in Indien Parlamentswahlen statt, Modi hat am Wochenende seine neue Regierung gebildet. Eine Reise in die Schweiz wäre in dieser Situation eine grosse Überraschung. Modis erste Auslandreise führt ihn an den G-7-Gipfel in Italien.
Seit der Regierungsbildung ist klar, dass Subrahmanyam Jaishankar Aussenminister Indiens bleiben wird. Der erfahrene Diplomat war in den vergangenen Jahren auf der internationalen Bühne die perfekte Ergänzung zu Modi, der mit seiner hindu-nationalistischen Innenpolitik im Ausland immer wieder kritisiert wird.
Jaishankar ist charmant und eloquent, in der Sache aber nicht weniger hart als Modi: Die Politik Indiens sei «Bharat first», Indien zuerst, so sagte es Jaishankar an einer Presserunde Anfang Woche, nachdem er die Arbeit als Aussenminister wieder aufgenommen hatte.
Kiew und Bern werben um Indien
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hat sich in den vergangenen Wochen stark um Indien bemüht. Auch der Schweizer Staatssekretär Alexandre Fasel reiste im Mai nach Indien und warb um eine Teilnahme an der Konferenz. In einem Interview mit dem «Indian Express» unterstrich er, wie wichtig Indien als «ein Führer des globalen Südens» für den Friedensprozess ist. Sollte nach all diesen Bemühungen nicht einmal der Aussenminister Jaishankar an der Konferenz teilnehmen, wäre das für die Ukraine und die Schweiz eine Niederlage.
Zwar hat Indien schon früh klargemacht, dass es Russlands Krieg in der Ukraine nicht gutheisst. «Dies ist nicht die Zeit für Krieg», sagte Modi im Gespräch mit Putin im September 2022. Allerdings sind die Beziehungen zwischen Russland und Indien eng und historisch gewachsen. Sie entwickelten sich während des Kalten Kriegs, als Indien ein führendes Mitglied der blockfreien Staaten war.
Noch heute kommt ein grosser Teil des indischen Rüstungsarsenals aus Russland. Zudem profitiert Indien seit Kriegsbeginn vom billigen russischen Rohöl, das in vielen anderen Ländern wegen der westlichen Sanktionen keinen Abnehmer mehr findet. Indien hat sich bei den Uno-Resolutionen gegen den russischen Angriffskrieg enthalten.
Indien will auf dem Bürgenstock offenbar nicht die Rolle des Vermittlers spielen. «Aus der indischen Perspektive war die Frage von Anfang an: Wie können beide Kriegsparteien eine langfristige Lösung finden?», sagt Harsh Pant, Aussenpolitikexperte beim indischen Think-Tank ORF. Die indischen Diplomaten glauben, für ernsthafte Verhandlungen müsste auch Russland am Gipfel dabei sein. «Für Indien gibt es keine Lösung, wenn nicht beide Kriegsparteien teilnehmen», sagt Pant.
Russland wurde nicht auf den Bürgenstock eingeladen, nachdem Moskau den Schweizer Organisatoren klargemacht hatte, dass eine Teilnahme sowieso ausgeschlossen wäre.
Die Ukraine stellt Russland als imperialen Staat dar
Selenski hat im Werben um Indien einen Trumpf: In den vergangenen Monaten sprach er von der Ukraine als einem Land, das von einem imperialen Russland angegriffen worden sei. Viele Länder im globalen Süden waren einst selber kolonialisiert. Selenskis Hoffnung war wohl, dass sie sich mit der angegriffenen Ukraine solidarisch zeigen würden. In Indien wie auch in anderen Ländern des globalen Südens verfing Selenskis Narrativ allerdings nicht.
«In Indien herrscht die Wahrnehmung vor, dass dies nicht ein Konflikt zwischen Russland und der Ukraine sei, sondern zwischen Russland und dem Westen», sagt Harsh Pant. Viele Staaten in Europa hätten eine eigene Geschichte als Kolonialherrscher. «Die Macht des Arguments, dass es hier um Kolonialismus gehe, wird verwässert», sagt Pant.
Dennoch scheint es aus westlicher Sicht überraschend, dass Indien keine prominente Vermittlerrolle einnehmen möchte. Schliesslich hatte Modi Selenski am G-7-Gipfel im vergangenen Jahr gesagt: «Ich versichere Ihnen, dass Indien und ich persönlich alles in unserer Macht Stehende für die Lösung des Konflikts tun werden.»
Der Ukraine-Konflikt war auch ein Wahlkampfthema in Indien. In einem Werbespot wiederholte Modis Partei BJP die Behauptung, die seit Beginn des Konflikts in Indien kursiert: Modi habe den Krieg kurzzeitig gestoppt, um indische Staatsbürger aus der Ukraine zu evakuieren. Modi sollte damit als grosser Aussenpolitiker porträtiert werden.
Westlicher Trugschluss
Indien hat sich zudem als Organisator des G-20-Gipfels im vergangenen Jahr als Führer des globalen Südens präsentiert. Als ein Land, das den Platz auf der Weltbühne einfordert, der ihm zusteht – Indien ist nicht nur das bevölkerungsreichste Land der Welt, es dürfte in naher Zukunft auch die drittgrösste Volkswirtschaft der Welt werden. Am G-20-Gipfel trat Indien als Land auf, das international eine Rolle spielen will.
Wahrscheinlich entstand damals in einigen Länder der Trugschluss, dass Indien sich auch für westliche Interessen in der Welt starkmachen würde. Aber in Modis Indien gilt «Bharat first». Und das Land möchte seine Beziehungen mit Russland nicht aufs Spiel setzen.