Ein verurteilter Anhänger des IS wehrt sich gegen seine Ausweisung in den Irak – auch mit schweren Vorwürfen gegen die Medien. Jetzt muss das Gericht klären, ob der Kriegsversehrte in seiner Heimat tatsächlich gefährdet ist.
Der Iraker, der als Osamah M. bekannt ist, beschäftigt die Schweizer Justiz seit mehr als zehn Jahren. Im Frühling 2014 liess ihn die Bundesanwaltschaft im Kanton Schaffhausen festnehmen, zusammen mit drei Komplizen. Aus Sicht der Ermittler handelte es sich bei dem aus dem Irak stammenden Osamah M. um den Anführer einer Zelle des Islamischen Staates (IS). Von der Schweiz aus soll die Zelle einen Anschlag irgendwo in Europa geplant haben.
Zwei Jahre später, im Frühling 2016, mussten sich die vier Mitglieder der Zelle, die allesamt als Asylbewerber in die Schweiz gekommen waren, am Bundesstrafgericht in Bellinzona verantworten. Drei von ihnen wurden schuldig gesprochen, einer kriminellen Organisation anzugehören, wobei damit eine Vorgängerorganisation des IS gemeint war.
In der Folge gelangte Osamah M. zweimal ans Bundesgericht, ehe der Schuldspruch rechtskräftig wurde. Das Strafmass von weniger als vier Jahren bedeutete, dass der Iraker, in Anrechnung der verbüssten Untersuchungshaft, im Frühling 2017 aus der Haft entlassen wurde. Gleichzeitig ordnete die Bundespolizei (Fedpol) seine Wegweisung in den Irak an, die aber nicht vollzogen werden konnte: Als Anhänger des IS galt Osamah M. als in seiner Heimat an Leib und Leben gefährdet. In einem solchen Fall greift das Non-Refoulement-Gebot, eine zwingende Bestimmung des Völkerrechts: Wenn einer Person Folter oder ähnliches droht, darf sie nicht ausgeschafft werden.
Neuer Anlauf nach sieben Jahren
Jetzt, sieben Jahre später, nimmt das Fedpol einen neuen Anlauf. Anfang September hat es den Vollzug der 2017 angeordneten Wegweisung verfügt. Vorgesehen war, Osamah M. am 19. September mit einem Sonderflug in den Irak auszuschaffen. Dagegen reichte der Mann eine Beschwerde ein, über die das Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen entscheiden muss.
Zwei Fragen wird sich das Gericht stellen müssen, deren Antworten sich diametral widersprechen könnten: Ist die körperliche Unversehrtheit von Osamah M. – der seit einer Kriegsverletzung auf den Rollstuhl angewiesen ist – im Irak tatsächlich gefährdet? Oder stellt er umgekehrt eine Bedrohung für die Bevölkerung in der Schweiz dar?
An der Einschätzung, dass Osamah M. auch viele Jahre nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis weiterhin eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellt, hält das Fedpol fest. Es stützt sich dabei auch auf eine Analyse des Nachrichtendienstes des Bundes (NDB). Weil sich die Sicherheitslage im Norden des Irak, insbesondere in Kirkuk, der Heimatstadt von Osamah M., stabilisiert habe, sei seine Ausschaffung zu verantworten.
Einen jüdischen Namen angenommen
Zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass Osamah M. seit einigen Jahren nicht mehr so heisst. 2021 hatte er eine offizielle Namensänderung beantragt. Der Iraker hat seinen Vor- und Nachnamen so gewählt, dass dies auf eine jüdische Herkunft schliessen lässt.
Die zuständigen Behörden in Schaffhausen haben die Namensänderung gestützt. Damit sollte Osamah M. – oder «Isaiha», wie er nun, ebenfalls anonymisiert, genannt wird – bei der Suche nach einer Wohnung nicht mehr diskriminiert werden.
Das mag ein seltsames Argument sein im Falle eines IS-Anhängers, dem die Wegweisung ausser Landes droht. In Zukunft soll das nicht mehr möglich sein: Aufgrund einer Motion des früheren Ständerats Thomas Minder hat der Bundesrat eine Gesetzesänderung ausgearbeitet, wonach im Falle einer verfügten Wegweisung keine Namensänderung vorgenommen werden darf. Die Vorlage kommt demnächst vors Parlament.
«Ich will nicht sterben»
Vergangene Woche hat der als Osamah M. bekannte Mann erstmals seit seiner Verhaftung vor mehr als zehn Jahren öffentlich Stellung genommen. Ein Journalist der «Schaffhauser AZ» hat ihn im Ausschaffungsgefängnis in Sitten besuchen können. Eindringlich bittet ihn der Häftling, dem zuständigen Gericht eine Botschaft zu überbringen: «Ich bin ein Mensch! Ich will nicht sterben!»
Es seien die Medien gewesen, die aus ihm ein Monster gemacht hätten, wird Osamah M. in der Zeitung zitiert. Mit immer neuen Lügen hätten sie seine Integration in der Schweiz verunmöglicht. Dadurch stehe er auch im Irak unter Beobachtung, und bei einer Ausschaffung drohe ihm der Tod.
«Medien sind Terroristen. Sie haben mein Leben kaputtgemacht», wirft er den Journalisten deshalb vor.
Bereits bei seinen Beschwerden vor Bundesgericht hatte Osamah M. die Medienberichterstattung ins Zentrum gestellt. In den Zeitungen sei seine Schuld schon lange vor der Urteilsverkündung festgestanden, beschwerte er sich. Das müsse eine Strafminderung zur Folge haben. Dieser Sichtweise widersprach damals das höchste Gericht. Das Interesse der Öffentlichkeit am Prozess sei legitim gewesen, ausserdem hätten die Medien auch Äusserungen der Verteidigung und damit den Standpunkt des Beschwerdeführers wiedergegeben.
Die Volte des Bundesrats
Dass die bereits vor sieben Jahren angeordnete Wegweisung jetzt doch noch vollzogen werden soll, erklärt das Fedpol mit der regelmässigen Überprüfung solcher Fälle. Osamah M. sei eine von insgesamt sieben Personen, die trotz einer Wegweisungsverfügung nicht ausser Landes geschafft werden können.
Eine entscheidende Rolle gespielt haben dürfte die wenig beachtete Stellungnahme des Bundesrats auf eine Motion von Lorenzo Quadri. Darin verlangt der Tessiner SVP-Nationalrat, verurteilte islamistische Terroristen seien immer in ihre Herkunftsländer auszuweisen, auch wenn die betreffenden Länder als «unsicher» gelten.
Zwar schreibt der Bundesrat in seiner Antwort auf die Motion, die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts liessen keine Abweichungen zu, auch nicht solche, wie sie von Nationalrat Quadri verlangt würden. Das sei unvereinbar mit dem Non-Refoulement-Gebot.
Doch am Schluss seiner Antwort macht der Bundesrat eine Volte und schliesst die Möglichkeit für eine Wegweisung doch nicht ganz aus. Das geltende Recht erlaube bereits heute die Ausweisung verurteilter islamistischer Terroristinnen und Terroristen in ihren Herkunftsstaat, schreibt die Landesregierung, auch wenn die betreffenden Länder nicht als «sicher» gelten. Voraussetzung sei einzig, dass die Vollzugsbehörde – also das Fedpol – im Einzelfall nach einer Risikobeurteilung zum Schluss komme, dass das Non-Refoulement-Gebot gewahrt sei.
Rund zehn Tage nach der Stellungnahme des Bundesrats, am 2. September, hat das Fedpol den Vollzug von Osamah M.’s Wegweisung verordnet.
Das letzte Wort hat das Bundesverwaltungsgericht. Dessen Entscheid wird abschliessend sein, er kann nicht weitergezogen werden.