Wo findet das Magische in einem rationalen Weltbild einen Platz?
Wer schreibt den Text, wenn das Ich verschwindet?
Auf dem Tessiner Literaturfestival Eventi letterari suchen Schriftsteller nach dem Surrealen im zeitgenössischen Schreiben.
Auf dem Monte Verità wollte man der Wahrheit am vergangenen Wochenende ein Schnippchen schlagen. Die Sprache sollte aus dem Schraubstock der Grammatik und Syntax entlassen und das ordnende, abwägende, kritische Ich zerstückelt werden. Ein Versuch, den Surrealismus zu seinem hundertsten Geburtstag nochmals auflodern zu lassen und die zeitgenössischen Literaten zu befragen, was ein surrealistisches Schreiben heute sein könnte.
Schon der Ort des Literaturfestivals kokettiert mit dem Surrealen. Unter dem Monte Verità, dem Tessiner Wahrheitsberg, sollen sich magnetische Felder befinden. In wissenschaftlichen Publikationen der 1970er Jahre ist von einer «magnetischen Anomalie» die Rede, die sogar Flugzeuge vom Kurs abgebracht haben soll. Eine Entdeckung, die nur verstärkte, was schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts der Antrieb für zahlreiche Schriften und Lebensentwürfe war, die auf dem Monte Verità erprobt wurden: Irgendetwas ist hier anders, anomal, magnetisch.
Und so fanden die diesjährigen Eventi letterari unter dem Titel «Surreale Welten – magnetische Felder» statt. Ein Titel, der doppelt passt, denn um 1920 verfassten André Breton und Philippe Soupault den Text «Les champs magnétiques», der als erste Schrift des Surrealismus gilt. Das Buch entstand durch die sogenannte «écriture automatique», eine Schreibmethode mit dem Ziel, dem rationalisierenden Ich zu entwischen, um sich endlich ganz den Bildern, Gefühlen und spontanen Assoziationen hingeben zu können.
Den Leuten den Mund ausfegen
Das Festival startete mit einem hypnotischen Redefluss von Stefan Zweifel, der seit 2023 künstlerischer Leiter des Festivals ist. In Anlehnung an die «écriture automatique» hielt Zweifel eine Art «discours automatique». Er sprach mit einem solchen Tempo, dass Sinn und Vernunft immer wieder abgehängt wurden.
«Die Kunst muss überwunden werden, wir müssen aufhören zu arbeiten, nur noch in Bars rumhängen und Verwirrung stiften», lautete ein Fetzen aus seiner Rede. Immer blieb offen, wer sprach, ob der Redner selbst, ob einer der Surrealisten durch ihn, ob es überhaupt noch einen Autor gab oder sich lediglich die Sprache in Zweifels Mund überschlug. Auch das ein Versuch, aus Macht und Mustern der Sprache zu entkommen.
Während Stefan Zweifel sprach, hielt er eine Coca-Cola-Flasche in den Händen. Eine Requisite, die je länger man sie betrachtete, immer besser zum Vorgetragenen zu passen schien. Auch die schwärzliche Flüssigkeit hat einen Hang zum Surrealen, allein die Farbe erinnert an ein Zaubergetränk, und offensichtlich lockert das Zuckerwasser Hirn und Zunge. Stefan Zweifel nämlich redete sich in Ekstase und collagierte Geschichte und Ideen des Surrealismus zu einem atemlosen Redeschwall.
Und genau darum war es den Surrealisten gegangen. Die Auflösung der bürgerlichen Kultur, der Sprache, des Ichs. Auch der deutsche Schriftsteller und Musiker Michael Lentz spielte mit der Sehnsucht nach Sinnentleerung. Er las aus seinem neu erschienen Prosaband «Chora», in dem sich die Wörter in Manier der konkreten Poesie scheinbar sinnlos aneinanderreihen, um dann eine ganz eigene, fremde Wirkung zu erzielen. Er will, wie es in einem seiner Gedichte heisst, den Leuten den Mund ausfegen. Es schien, als wolle er sich vor allem seinen eigenen Mund gründlich ausfegen, so virtuos zischelte, knackte, nuschelte und schrie er in den Raum hinein, bis ihm die Luft ausging. Sein Vortrag zeigte, dass Surrealismus und Dadaismus sich zwar vom Sinn verabschiedet, aber dafür einer oft vergessenen Qualität der Sprache Platz gemacht haben: ihrem Klang.
Der Überfluss am Dasein
Die Lyrikerin und Autorin Marion Poschmann widmete sich den rätselhaften und magischen Frauen, wiederum ein Thema, das mit dem Monte Verità verwoben ist. Schon Mary Wigman hatte in den 1910er Jahren dort ihren «Hexentanz» aufgeführt. Poschmann las aus ihrem Roman «Chor der Erinnyen», in dem eine Protagonistin hellseherische Fähigkeiten entdeckt. Das Magische werde im Überbetonen des rationalen Zugriffs auf die Welt in die Ecke gedrängt, sagte die Autorin im Gespräch. Poschmann interessiert sich für das Dämonische und Monströse in ihren Frauenfiguren, für Phänomene, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. In ihren Worten findet man die zeitgenössische Faszination für Hexen und Heilkünste wieder, die jüngst zahlreiche Autorinnen und Autoren – und auch den Gast der letzten Eventi letterari, Kim de l’Horizon – umtreibt.
Stefan Zweifel schien im Laufe des Festivals ein Unbehagen über sein eigenes Unterfangen zu überkommen. In den Gesprächen mit Tom McCarthy und Ann Cotten wurde er spürbar wehmütig. In all der surrealistischen Austreibung von Sinn und Ich schien er Letzteres doch zu vermissen. Eine in Versatzstücke zerlegte Sprache, die sich vom Zwang der Logik befreit hat, ist am Ende eben nicht nur befreit, sondern auch unleserlich, vielleicht sogar unmenschlich. «Wenn es kein Ich mehr gibt», fragte Zweifel, «wer schreibt dann eigentlich den Text?» Für McCarthy ist es die Sprache selbst. Der Autor ist lediglich ein Mediator, eine Art Maschine, die den «exzessiven Überfluss des Daseins» in Text umwandelt.
McCarthy und Cotten waren die wohl postmodernsten Gäste des Festivals. Und vielleicht die einzigen, für die der Surrealismus in gewisser Weise real geworden ist, die das Autoren-Ich lose, zerstückelt und maschinell sehen. Für die alles voller Überlagerungen, Loops und Wiederholung ist und die sich für das Automatische und Maschinelle interessieren. Leider aber, so erzählte Ann Cotten, könne Chat-GPT bis jetzt nur Gedichte ausspucken, die sich reimten, egal wie präzise der Prompt, die schriftliche Anweisung, mit dem die künstliche Intelligenz befragt werde. Nichtreimendes gehe nicht. Auf Stefan Zweifels Versuch, das Ich der eigensinnigen Autorin hervorzuholen, das er hinter einem Nebel aus Begriffen und Ideen vermutete, sagte sie bloss: «Ich wäre glücklich, wenn mir selbst ich gliche.»