Die Stadt will ausgerechnet eines der beliebtesten Quartiere der Stadt, seit 1990 verkehrsberuhigt, umkrempeln. Weshalb?
Claudio Santos weiss nicht im Detail, was die Stadt mit seinem Quartier vorhat. Doch er ahnt, dass die Pläne seine Existenz bedrohen könnten.
Santos ist Inhaber des Restaurants Pergola im Kreis 4, er führt es gemeinsam mit seiner Frau Dominique Santos. Und er hat das Pech, dass das Tiefbauamt unter Stadträtin Simone Brander (SP) genau dort, zwischen Bäckeranlage und Badenerstrasse im Stadtzürcher Kreis 4, mit einem neuen Verkehrskonzept experimentiert.
«Quartierblock» heisst es. Die Stossrichtung: den Durchgangsverkehr aussperren. Claudio Santos kann nicht verstehen, warum die Stadt in einem Quartier interveniert, das längst verkehrsberuhigt ist. Und in dem weder Schleichverkehr gemessen noch besondere Unfallschwerpunkte festgestellt wurden.
Die Familie Dos Santos befürchtet, dass die Pläne der Stadt auf zwei Dinge hinauslaufen: Parkplatzabbau und Strassensperrungen. Beides ist absehbar. Und beides wäre Gift für ihr Restaurant.
Claudio Santos arbeitet seit über zehn Jahren im Restaurant Pergola. 2017 konnte die Familie den Betrieb übernehmen, sie führt ihn unter gleichem Namen weiter. Serviert werden vor allem Fleischgerichte und italienische Küche, die Gäste sind treu.
Anreise zu Fuss? Unrealistisch
Sie wohnen im ganzen Kanton, viele von ihnen sind etwas älter und kommen gerne mit dem Auto. Zu Fuss kommen die wenigsten. Das nächste öffentliche Parkhaus sei zu weit weg, sagt Claudio Santos. «Wenn sie nicht mehr in der Nähe parkieren können, dann kommen sie nicht mehr.» Sollte das Verkehrsregime so umgesetzt werden, wie es derzeit aussieht, sei die Zukunft des Betriebs unsicher.
Auf den ersten Blick wirken die Pläne der Stadt harmlos. Mit Blumenkübeln und Pflanzenkisten sollen Strassen gesperrt werden, auf denen neue Treffpunkte für die Bevölkerung entstehen sollen.
Was hier im Kreis 4 erprobt wird, soll später stadtweit eingeführt werden: Die ganze Stadt soll in Quartierblöcke aufgeteilt werden. 850 000 Franken gibt die Stadt jetzt für zwei Pilotprojekte – eines im Kreis 4, eines in Unterstrass – aus. Das Tiefbauamt investiert zudem unzählige Arbeitsstunden und leistet sich einen aufwendigen Mitwirkungsprozess.
Die Idee, an der sich die Stadt orientiert, ist aus Barcelona importiert. Dort sind die «Superblocks» verkehrsberuhigte bis verkehrsfreie Quartiere, der Durchgangsverkehr wird darum herum geleitet.
Flott unterwegs sind vor allem die Velofahrer
Es ist ein Konzept, das in städtebaulich missglückten Agglo-Gemeinden durchaus Sinn ergeben kann. Doch nach vier Jahrzehnten mit einer rot-grün dominierten Stadtregierung ist der Durchgangsverkehr ohnehin bereits aus vielen Stadtzürcher Quartieren verbannt. Im Quartier von Claudio Santos sind jedenfalls wenig Autos unterwegs, wie jeder Besucher leicht feststellen kann.
Bereits seit 1990 gilt hier Tempo 30 – stellenweise sogar Tempo 20. Die Fahrbahnen hat die Stadt zudem derart verengt, dass die Fahrzeuge nur mit Mühe kreuzen können. Flott unterwegs sind vor allem die Velofahrer.
Und die «Begegnungsorte», die die Stadt via Planungsprozess quasi neu erfinden will, gibt es längst: Grünanlagen, Fussballplätze, Spielplätze. In den Schulanlagen spielen die Kinder Fussball, junge Hipster stählen am Klettergerüst ihre Muskeln. Im Quartier gibt es Gastro-Betriebe, aber auch Gross- und Kleingewerbe vom Schumacher bis zum Schneider.
Dennoch ist es die erklärte Absicht des Tiefbauamts, das Quartier wieder «lebenswert» zu machen. Wie geht das zusammen?
Die Stadt verweist in diesem Zusammenhang gerne auf den «partizipativen Prozess». An drei langen Samstagmorgen hat sie zur Mitarbeit eingeladen. Manche Besucher beschlich allerdings das Gefühl, es seien nicht, wie von der Stadt propagiert, «Ideen, Perspektiven und die lokale Expertise der Gäste» abgeholt worden.
In den Arbeitsgruppen hätten die jungen Projektleiterinnen und Projektleiter der Stadt beflissen notiert, was die Teilnehmer gesagt hätten – aber nur dann, wenn es ins Schema der städtischen Planung gepasst habe. So schildern es der NZZ mehrere Teilnehmer.
Die Bewohnerschaft des Quartiers soll zudem nicht repräsentativ vertreten gewesen sein. Dafür seien viele Interessenvertreter dabei gewesen. Zum Beispiel von Genossenschaften oder dem Verein Umverkehr, der sich für einen radikalen Abbau des Autoverkehrs einsetzt.
Gewerbler waren hingegen untervertreten. Einer, der sich trotz Vorbehalten Zeit genommen hat, ist Marc Hunziker, der Inhaber des gleichnamigen, fast hundert Jahre alten Malergeschäfts im Quartier mit über 80 Mitarbeitenden. Hunziker zeigt sich schwer enttäuscht. Er sagt: «Man hat alles berücksichtigt, ausser die Anliegen der lokalen Wirtschaft.»
Ein Problem für den Malermeister: Die beiden zentralen Verkehrsachsen zu seinem Geschäft sollen bald nicht mehr durchgängig befahrbar sein. So sehen es die Pläne vor, die am Ende des Partizipationsprozesses entstanden sind. Damit sei ein von Beginn weg zentrales Anliegen für die Handwerker nicht berücksichtigt worden.
Die vielen neuen Einbahn-Regime erschwerten die Zugänglichkeit für das lokale Gewerbe in existenzieller Art und Weise. Den Planern mangle es an Ortskenntnissen und am wahren Interesse fürs Quartier. Dabei wäre es problemlos möglich, die Anliegen in einen ausbalancierten und fairen Einklang zu bringen. «In diesem Quartier wird nicht nur gewohnt, sondern auch gearbeitet.»
Die angebliche Partizipation sei aber nur ein Feigenblatt, findet Hunziker. «Es geht nur um die dogmatische Umsetzung des Auftrags von oben.»
Das Tiefbauamt kontert die Kritik: Sinn des Anlasses sei es sehr wohl gewesen, die lokalen Bedürfnisse abzuholen. Es sei aber die Aufgabe der Verwaltung, die Aufträge der Stimmbevölkerung und des Gemeinderats umzusetzen. Man habe an den Veranstaltungen die Rahmenbedingungen und den Handlungsspielraum deutlich gemacht. Das Amt beruft sich auf den kommunalen Richtplan, den die Bevölkerung 2021 angenommen habe: Darin sei das Konzept enthalten.
Es gibt auch andere Stimmen. Matthias Lüthi, der Geschäftsleiter der Baugenossenschaft GBMZ, sagt, er habe sich gut einbringen können. Zum Beispiel, was die Zufahrt für Handwerker betrifft, die notwendig ist, um die Liegenschaften zu unterhalten. Über die Verantwortlichen der Stadt sagt er: «Sie haben durchaus zugehört.»
Ebenfalls anwesend war Franco Taiana, der Präsident des lokalen Quartiervereins. Ihm sind einzelne autofreie Strassen sympathisch. Er sagt aber auch: «Das muss alles mit Augenmass geschehen.» Die Gewerbebetriebe seien wichtig fürs Quartier.
Taiana will auch keinen übermässigen Parkplatzabbau, denn viele Anwohner seien auf Abstellmöglichkeiten angewiesen. Zumal im Quartier durch den Bau von Velorouten ohnehin schon Parkplätze im grossen Stil gestrichen würden.
Ein Verkehrsproblem sieht Taiana an den Wochenenden. Jeweils abends gebe es dann viel Parkplatz-Suchverkehr von der nahen Ausgehmeile Langstrasse. Seine Idee, dies durch den Einsatz von versenkbaren Pollern zu lösen, habe die Stadt aber nicht aufgenommen.
Stadt folgt dem Wunsch einer Genossenschaft
Die Frage bleibt: Warum hat die Stadt ausgerechnet dieses Quartier für ihr Experiment ausgewählt? Das Tiefbauamt schreibt, es habe 67 mögliche Pilotgebiete in der ganzen Stadt geprüft. Kriterien seien unter anderem ein Mangel an Bäumen gewesen, Schleichverkehr oder mangelndes «Sicherheitsempfinden». Beim Durchgangsverkehr stützt sich das Amt auf «Annahmen», keine Messungen.
Den Anstoss gaben am Ende nicht etwa auffällige Probleme im Quartier. Vielmehr hat die Genossenschaft GMBZ zeitgleich mit der Stadt ebenfalls mit einer Superblock-Idee gespielt. Das Tiefbauamt bestätigt: «Die Initiative kam von einer Genossenschaft mit zwei Wohnsiedlungen im Quartier.»
Die GBMZ ist in Besitz der beiden Liegenschaften «Feld» und «Engel», die durch die Schreinerstrasse, eine Quartierstrasse, getrennt sind. Diese Strasse wünscht sich die GBMZ autofrei und hat dies der Stadt auch mitgeteilt. Ein Planungsbüro, mit dem die Baugenossenschaft zusammenarbeitet, hat aus eigenem Antrieb eine Studie zu einem möglichen Quartierblock gemacht. Dass die Stadt die Quartierblock-Idee gleich im ganzen Quartier umsetzen will, habe ihn «positiv überrascht», sagt der Geschäftsleiter Lüthi.
Hinter dem enormen Aufwand steckt also letztlich der Wunsch nach einer einzigen autofreien Strasse.
Die Stadt hat ihren fast ein Jahr lang dauernden Planungsprozess unterdessen abgeschlossen. Die definitiven Pläne für die Umsetzung werden nun erarbeitet. Im Sommer werden die Pläne öffentlich vorliegen. Dann wird umgesetzt – zunächst mit «mobilen Elementen». Mit der Zeit werden diese dann durch bauliche Massnahmen ersetzt. Auf dass eines der beliebtesten Quartiere der Stadt endlich «lebenswert» werde.
Das, was es in den Augen von Claudio Santos schon längst ist.