Das haschemitische Königreich unterhält diplomatische Beziehungen zu Israel, doch die Bevölkerung begehrt dagegen auf. Amman befindet sich in einer geopolitischen Zwickmühle. Das zeigt sich auch an Bord eines Flugs der jordanischen Luftwaffe über den Gazastreifen.
Ohne Regung blickt der jordanische Oberstleutnant auf die Ruinen von Gaza. Durch das kleine Fenster der Hercules C-130 sieht er, dass nahezu jedes zweite Gebäude im Norden des Küstenstreifens zerstört ist – dem Erdboden gleichgemachte Wohnhäuser, das zerstörte Dach einer blauen Moschee, ausgebombte Strassenzüge. Dann hebt der Ladungsmeister im hinteren Teil des Flugzeugs seine Arme in die Höhe. Die ersten acht Paletten sausen durch die geöffnete Luke und schweben hinunter auf einen markierten Ort in der Nähe des Flüchtlingslagers von Jabalya. Wenige Sekunden später folgen weitere acht Paletten mit Hilfsgütern, die an gelben Fallschirmen auf den Stadtteil Atrata in Nordagaza hinuntergehen.
Die Klappe schliesst sich, das Transportflugzeug dreht ab in Richtung Mittelmeer. Die Soldaten der jordanischen Spezialkräfte setzen sich dorthin, wo vor kurzem noch Hilfsgüter für die Menschen im nördlichen Gazastreifen standen. Der ohrenbetäubende Lärm an Bord der Hercules stört sie nicht. Einige spielen auf ihrem Handy, andere rauchen: Mission erfüllt.
«Für uns Jordanier ist es so: Die Palästinenser sind ein Teil von uns, und wir sind ein Teil von ihnen», sagt der Oberstleutnant knapp drei Stunden zuvor auf der Abdullah-II-Luftwaffenbasis ausserhalb der jordanischen Hauptstadt Amman. Seinen Namen darf der Mann in der sandfarbenen Tarnuniform aus Sicherheitsgründen nicht nennen, auch Fotos sind verboten. «Wir sehen die schrecklichen Szenen aus Gaza, und ich bin stolz, dass wir Jordanier einen Beitrag leisten, um das Leid zu lindern», sagt der Offizier mit den angegrauten Haaren. «Aber ich wünschte, wir könnten mehr tun.»
Der Oberstleutnant ist in Jordanien mit seiner Meinung nicht allein. Rund ein Fünftel der Bewohner des Königreichs sind Palästinenser, über die Hälfte hat palästinensische Wurzeln. Die Verbindung geht sogar bis hinauf ins Königshaus der Haschemiten, das Jordanien seit 1921 beherrscht: Königin Rania wurde als Tochter palästinensischer Eltern in Kuwait geboren.
Trotzdem unterhält das arabische Land östlich des Jordans diplomatische Beziehungen mit Israel, seit 1994 existiert ein Friedensvertrag zwischen den Staaten. Als Iran Mitte April Israel angriff, schoss die Luftwaffe Jordaniens sogar etliche iranische Drohnen über ihrem Luftraum ab. Doch der jordanische König Abdullah II. kritisiert Israel scharf und wirbt um Unterstützung für die Palästinenser. Der Gaza-Krieg hat die Wüstenmonarchie in eine geopolitische Zwickmühle gebracht – und der Frust darüber entlädt sich auf den Strassen von Amman.
«Schliesst die Botschaft der Besetzer»
«Danke, Hamas – eure Handlungen machen uns stolz», schallt es aus den Mündern von etwa 500 Menschen am Freitagnachmittag auf einer breiten Strasse in der Innenstadt von Amman. «Ganz Jordanien steht hinter der Hamas», ruft die Menge. Später folgen Sprechchöre, die das Wort «Freiheit» wiederholen, aber die Demonstranten fordern auch «Rache» und «Jihad».
Die Menschen, die sich auf der Strasse nach dem wöchentlichen Gebet bei der Al-Husseini-Moschee versammelt haben, sind bunt gemischt. Ältere Männer, junge Frauen, Säkulare und Religiöse demonstrieren hier ihre Solidarität mit der Hamas, verurteilen den «Genozid» in Gaza und verlangen ein Ende der jordanisch-israelischen Beziehungen.
Organisiert wird die Demonstration von einer muslimischen Studentenorganisation, die stramm islamistisch ist. «Das ist bedauerlich, wir sollten hier andere Slogans hören», sagt Roula al-Hroub, die Vorsitzende der jordanischen Arbeiterpartei, die heute auch zu dem Protest gekommen ist. «Aber die Islamisten haben eben mehr finanzielle und menschliche Ressourcen, um so etwas zu organisieren», sagt sie.
An diesem Tag sind es nur wenige hundert, die demonstrieren. Anfang April waren es allerdings Tausende, die vor der israelischen Botschaft auf die Strasse gingen. Die jordanischen Sicherheitskräfte setzten Tränengas ein und verhafteten laut Amnesty International 500 Demonstranten. Seitdem kommen weniger Leute zu den Protesten.
Die linke Politikerin Hroub geht seit dem Beginn des Gaza-Kriegs auf die Strasse. Sie sagt, ihre Forderung an die jordanische Regierung habe sich nicht verändert. «Sollte unsere Regierung alle Beziehungen mit Israel abbrechen, wäre dieser Krieg vorbei», schreit Hroub über die rhythmischen Rufe der Masse hinweg. «Aber leider reagiert sie nur mit Worten und nicht mit Taten.» Die kleine Frau mit der Kurzhaarfrisur verschwindet wieder in der Menge, die kurz darauf lautstark verlangt, die «Botschaft der Besetzer» in Amman zu schliessen.
In Jordanien breitet sich der politische Islam aus
Weit weg von dem Lärm und der Enge der Innenstadt befindet sich die herrschaftliche Villa von Osama al-Sharif. Der jordanische Journalist lebt in Abdoun, einem der teuersten Quartiere von Amman. Die Proteste seien aus mehreren Gründen signifikant, sagt Sharif in seinem grossen Wohnzimmer bei Kaffee und Wasser, das seine Hausangestellte serviert. «Einerseits, weil dadurch die engen Beziehungen zwischen Palästina und Jordanien wieder an die Oberfläche kommen. Andererseits, weil der politische Islam in Jordanien stärker wird.» Im Gegensatz zu anderen Ländern in der Region wie Ägypten ist die Muslimbruderschaft in Jordanien nicht verboten. Die Hamas hatte ihren Sitz bis 1999 in Amman.
«Die Gaza-Proteste werden vor allem von den Muslimbrüdern organisiert», erklärt Sharif. «Das ist natürlich sehr beängstigend für die Regierung, da vor allem viele junge Menschen zu den Demonstrationen kommen, die sich jetzt radikalisieren.» Diese jungen Menschen, die wütend auf ihre Regierung seien, weil sie weiterhin Beziehungen mit Israel unterhalte, identifizierten sich nun zunehmend mit islamistisch-militanten Kräften, meint Sharif.
Die Nervosität in Jordanien steigt: Am 7. Mai verbot die Regierung den mit den Muslimbrüdern verbundenen Fernsehsender al-Yarmuk. Sicherheitskräfte durchsuchten die Büros des Senders in Amman. Im September finden zudem Wahlen in Jordanien statt. Angesichts des Gaza-Kriegs könnten die Muslimbrüder starke Zuwächse verzeichnen.
Jordanien ist schon seit Jahrzehnten gezwungen, einen politischen Drahtseilakt zu vollführen. Der Gaza-Krieg hat das Seil noch dünner werden lassen. Die rohstoffarme Wüstenmonarchie ist militärisch und finanziell abhängig von den USA, die etwa 3000 Soldaten in dem Land stationiert haben. Auch um diese Beziehung nicht zu gefährden, hält Jordanien an der Normalisierung mit Israel fest.
Um das zornige Volk zu besänftigen, hat der jordanische König seinen Botschafter aus Tel Aviv abgerufen. Zudem treibt er eine massive Ausweitung der Hilfslieferungen nach Gaza voran. Die Abdullah-II-Luftwaffenbasis ist zur Drehscheibe für die Abwürfe von Hilfsgütern über Gaza geworden, seit Ende April schickt Jordanien auch Lastwagen mit Nahrungsmitteln und Medikamenten über Land nach Gaza. Gerade hier zeigt sich, wie vorsichtig Jordanien agieren muss: Alle Anstrengungen, mehr Hilfsgüter nach Gaza zu bringen und sich damit als Vorkämpfer für die palästinensische Sache zu präsentieren, sind nur in enger Absprache mit Israel möglich.
Absage an die arabisch-israelische Koalition gegen Iran
Während Jordaniens westlicher Nachbar aus innenpolitischen Gründen ein problematischer Partner ist, lauert die grösste geostrategische Gefahr für das haschemitische Königreich aber im Osten: Iran. «Als Teheran Mitte April den beispiellosen Angriff auf Israel startete, wollte es wahrscheinlich auch ein kleines Zeichen an Jordanien senden», sagt Edmund Ratka, der seit über drei Jahren das Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Jordanien leitet. Die iranischen Drohnen flogen direkt über der Hauptstadt Amman, als die jordanische Flugabwehr sie vom Himmel holte.
In Israel wurde der Abschuss als Geburt einer arabisch-israelischen Koalition gegen Iran gefeiert, auf der nun aufgebaut werden könne. Da sei allerdings viel israelisches Wunschdenken dabei, meint Ratka in einem noblen Café unweit der amerikanischen Botschaft. «In Jordanien herrscht zwar schon lang eine authentisch antiiranische Stimmung, und die Jordanier fühlen sich bedroht durch die Iran-hörigen Milizen im Nachbarland Irak», sagt der Deutsche. «Aber ohne das ernsthafte Bemühen um Fortschritte in der Palästinenser-Frage wird es keine antiiranische Allianz zwischen Jordanien, anderen arabischen Staaten und Israel geben.»
Auch Jordanien könnte ins Chaos stürzen
In der gegenwärtigen Situation wäre eine formelle Allianz Jordaniens mit Israel politischer Selbstmord. «Auch ein Grossteil der liberalen oberen Mittelschicht hier in diesem Café unterstützt das Prinzip des palästinensischen Widerstands, selbst wenn sie die islamistische und mörderische Ideologie der Hamas ablehnt», sagt Ratka, während er auf die anderen Gäste deutet.
Kurzfristig sieht der Politikwissenschafter die innenpolitische Stabilität nicht gefährdet, und er geht auch nicht davon aus, dass Jordanien die Beziehungen mit Israel abbricht. «Aber wir als Westen müssen vorsichtig sein», mahnt Ratka. «Wir dürfen im Nahen Osten nicht einfach nur auf prowestliche Politiker setzen, die eine zunehmend antiwestliche Bevölkerung regieren.» Letztmals hat sich im Arabischen Frühling gezeigt, dass nahöstliche Autokratien fragil sind.
Der Gaza-Krieg fördert gerade in dem stark palästinensisch geprägten Jordanien alte Bruchlinien zutage, die den Stabilitätsanker der Region ins Chaos stürzen könnten. Ratka drückt es noch deutlicher aus: «Jeder Tag Krieg ist ein Rekrutierungsprogramm für die jordanischen Muslimbrüder.»









