Der Qosh-Tepa-Kanal soll im Norden Afghanistans riesige Flächen für die Landwirtschaft erschliessen. Schon dieses Jahr könnte der Hauptkanal fertig sein. Für die zentralasiatischen Nachbarn wird sich damit die Wasserknappheit weiter verschärfen.
Es ist das mit Abstand grösste Infrastrukturprojekt des Taliban-Regimes – und es schreitet rasch voran. Nach nur drei Jahren Bauzeit sind bereits achtzig Prozent des Qosh-Tepa-Kanals im Norden Afghanistans fertig. Noch dieses Jahr könnte das erste Wasser aus dem Amu Darja in den 287 Kilometer langen Bewässerungskanal geleitet werden. Langfristig soll der Kanal riesige Flächen für die Landwirtschaft in den dürren Ebenen Nordafghanistans erschliessen. Die Hoffnung ist, damit für 200 000 Menschen Arbeit und Einkommen zu schaffen.
Der rasche Fortschritt der Bauarbeiten überrascht. Die Taliban, die Afghanistan seit dem Abzug der westlichen Truppen im August 2021 mit harter Hand regieren, sind nicht gerade für ihre erfolgreiche Wirtschaftspolitik bekannt. Im Gegenteil: Seit dem Sturz der prowestlichen Regierung ist die Wirtschaft kollabiert, der Grossteil der Bevölkerung lebt in Armut. Auf Hilfe kann das Regime, das bis heute von keinem Land der Welt anerkannt wird, nicht zählen.
Doch der Bau des Kanals zeigt, dass die Islamisten durchaus in der Lage sind, Vorhaben umzusetzen, wenn sie es sich in den Kopf gesetzt haben. Seit dem Frühjahr 2022 arbeiten mehr als 5000 Arbeiter mit rund 4000 Baggern, Planierraupen und Lastwagen an dem Projekt. Der Kanal, der vom Amu Darja grob in westlicher Richtung verläuft, soll im Schnitt 100 Meter breit und 8 Meter tief werden. Der erste Abschnitt von 107 Kilometern wurde in nur 18 Monaten fertiggestellt.
Der Hauptkanal ist nur der Anfang
Der afghanische Wasserexperte Najibullah Sadid sieht den Kanal als Chance. Die Gewinnung neuer Flächen für die Landwirtschaft könne helfen, die Ernährungssicherheit zu verbessern und die Armut zu bekämpfen, sagt der unabhängige Forscher, der an der Universität Stuttgart promoviert hat und heute in Deutschland im Umweltbereich arbeitet. Das Klima im Norden Afghanistans sei kühler als flussabwärts in Usbekistan und Turkmenistan, so dass man für die Landwirtschaft weniger Wasser benötige als in den Nachbarländern.
Allerdings beunruhigt den Experten, dass es bis jetzt keinen umfassenden Masterplan für das Bewässerungsprojekt gibt. Der Fokus der Taliban liege bis anhin allein auf dem Bau des Hauptkanals, sagt Sadid. Dieser mache aber nur zehn Prozent der Gesamtarbeiten aus. Um das Wasser für die Bauern nutzbar zu machen, müsste man grosse Seitenkanäle sowie Hunderte sekundäre und tertiäre Kanäle mit einer Gesamtlänge von mehreren tausend Kilometern graben.
Dazu brauche es neben Dutzenden Brücken auch zahllose Schleusen und Pumpstationen, um das Wasser in den Seitenkanälen zu verteilen. Schliesslich müsse definiert werden, was auf den Feldern angebaut und wie die Produkte vermarktet werden sollten, sagt Sadid. Für all das fehle bis jetzt jedoch eine Strategie. Werde die Gegend erst mal landwirtschaftlich genutzt, seien Änderungen schwierig.
Der Plan für den Kanal existiert seit Jahrzehnten
Die Idee für den Qosh-Tepa-Kanal ist nicht neu. Schon in den fünfziger Jahren gab es erste Planungen dafür. Unter Präsident Mohammed Daud wurde der Bau des Kanals 1975 dann erstmals in das Programm der Regierung aufgenommen. Da Daud aber nur drei Jahre später durch einen Putsch der Kommunisten gestürzt wurde und Afghanistan nach dem Einmarsch der Sowjetarmee 1979 in einem jahrelangen Bürgerkrieg versank, wurde das Kanalprojekt nicht weiterverfolgt.
Erst die Regierung von Präsident Ashraf Ghani nahm das Vorhaben 2018 wieder auf. Mithilfe der amerikanischen Entwicklungshilfeorganisation USAID wurde eine Machbarkeitsstudie erstellt. Die ersten sieben Kilometer des Kanals waren fertig, als Ghanis Regierung im August 2021 von den Taliban gestürzt wurde. Nachdem die Islamisten ihre Macht in Kabul konsolidiert hatten, griffen sie das Bauvorhaben wieder auf. Seither treiben sie die Arbeiten mit Nachdruck voran.
Das Projekt erlaube es den Taliban, der Bevölkerung zu zeigen, dass sie etwas für die Entwicklung des Landes tun, sagt der Wasserexperte Sadid. Dies sei gerade in Nordafghanistan wichtig, wo die Taliban unter der tadschikischen Minderheit traditionell wenig Rückhalt hätten. Für die Arbeiten seien Maschinen aus dem ganzen Land zusammengezogen worden. Für die privaten Bauunternehmer, die nach dem Sturz der prowestlichen Regierung einen Grossteil ihrer Aufträge verloren hätten, sei dies eine Chance gewesen, sagt der Experte.
Ein Grossteil des Wassers droht im Sand zu versickern
Die Kosten des Hauptkanals belaufen sich laut der Machbarkeitsstudie von 2019 auf 1,5 Milliarden Dollar. Die Taliban finanzieren die Arbeiten vor allem aus den Erlösen einer Mine in der Region, deren Kohle sie nach Pakistan exportieren. Sie haben zudem mehr Steuern zur Verfügung als die alte Regierung, da sie die Abgaben konsequenter eintreiben und weniger korrupt sind. Trotzdem fehlt es dem Regime an Geld, um den Kanal ordentlich mit Beton auszukleiden.
Der usbekische Forscher Hamsa Boltajew sieht dies als grosses Problem. Da der Kanal in den losen Sandboden gegraben werde, drohe ein Grossteil des Wassers ungenutzt zu versickern, schrieb Boltajew vergangenes Jahr in einer Analyse. Studien gehen davon aus, dass auf den ersten 40 Kilometern durch die Sandwüste 22 Prozent des Wassers verlorengehen. Weitere 8 Prozent dürften im weiteren Verlauf des Kanals versickern. Auch kann der Kanal brechen, wie sich im November 2023 zeigte, als viel Wasser in die umliegende Wüste abfloss.
In einer Region, die besonders stark vom Klimawandel betroffen ist und in der Wasser ein kostbares und knappes Gut sei, sei es dringend notwendig, den Kanal abzudichten, schrieb Boltajew. Was andernfalls droht, zeigen die Bewässerungskanäle, die zu Sowjetzeiten in den zentralasiatischen Republiken gebaut wurden. Durch das Einsickern des Wassers aus den Kanälen stieg dort der Grundwasserpegel. In den salzhaltigen Böden wurde dadurch Salz an die Oberfläche geschwemmt. Heute ist die Versalzung der Böden ein grosses Problem.
Eine Kooperation mit den Nachbarn wäre sinnvoll
Eigentlich müssten Drainage-Kanäle gebaut werden, um das salzhaltige Wasser wieder abzuführen, sagt der Wasserexperte Sadid. Dazu gebe es aber in Afghanistan bis jetzt keine Pläne. Am besten wäre es, den Kanal richtig abzudichten, um das Versickern des Wassers zu verhindern. Es wäre schon ein Gewinn, würden die ersten 40 Kilometer versiegelt, sagt Sadid. Dies wäre auch im Interesse der Nachbarländer. Statt sich gegen den Kanal zu wehren, sollten sie lieber helfen, das Projekt zu verbessern.
Bisher haben die Nachbarländer nur verhalten auf den Kanal reagiert. Zwar werden sie auf Wasser des Amu Darja verzichten müssen, wenn Afghanistan wie geplant 16 Prozent des Flusses in den Kanal umleitet. Doch eine rechtliche Handhabe gegen das Projekt haben die Nachbarn nicht. Es ist unbestritten, dass Afghanistan ein Recht auf die Nutzung des Amu Darja hat. Auch ist das Land nicht Teil des Almaty-Abkommens zur Aufteilung des Wassers des Flusses von 1992.
Ausserdem können sich Usbeken und Turkmenen schlecht darüber beschweren, dass die Afghanen nun auch den Amu Darja anzapfen wollen. Sie selbst haben jahrzehntelang so viel Wasser aus dem Fluss zur Bewässerung ihrer Baumwollfelder abgezweigt, dass der Fluss kaum noch bis zum Aralsee gelangte. Der einst grösste See der Welt ist deshalb weitgehend ausgetrocknet. An ihrem Umgang mit dem Amu Darja haben die Anrainerstaaten trotz dieser Umweltkatastrophe kaum etwas geändert.
Es sei dringend, das knappe Wasser des Amu Darja effizienter zu nutzen, sagt Sadid. Noch immer gebe es aber kaum ein Bewusstsein für das Problem in der Region – auch nicht bei den Taliban. Der Wasserexperte ist daher zurückhaltend, was die langfristigen Erfolgsaussichten des Bewässerungsprojekts betrifft. Ohnehin ist offen, ob die Taliban die Entschlossenheit haben, das Grossprojekt bis zum Ende zu führen. Denn bis zur Fertigstellung aller Seitenkanäle, Schleusen und Pumpstationen wird es wohl noch 15 Jahre dauern.