Laut den neuesten Europol-Daten ist die Zahl terroristischer Gewalttaten deutlich gestiegen. Die meisten Anschläge waren nicht islamistisch motiviert. Doch noch sind die Auswirkungen der Kriege im Nahen Osten nicht vollständig sichtbar.
Polizeipräsenz, Betonpoller und Metallsperren gehören inzwischen vielerorts in Europa genauso zur Adventszeit wie Lichterglanz und Glühweinduft. Doch am Freitagabend konnten sie nicht verhindern, dass ein Mann in Magdeburg mit einem Auto in einen Weihnachtsmarkt raste. Mindestens fünf Menschen kamen ums Leben, und 200 wurden verletzt. Der Anschlag lässt die Befürchtungen von Terrorexperten in Europa wahr werden, die schon länger vor einer grösseren Attacke gewarnt haben.
Nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und der folgenden Eskalation im Nahen Osten war die Angst auch in Europa gross, dass radikale Attentäter die Lage für Anschläge nutzen könnten. Die Messerangriffe in Zürich, Solingen und Mannheim und die verhinderten Attentate auf das Taylor-Swift-Konzert in Wien schienen diese Befürchtung zu bestätigen.
Wie viele Terrorattacken in Europa 2024 zusätzlich verübt oder verhindert wurden, lässt sich derzeit noch nicht sicher bestimmen. Sowohl die einzelnen Länder als auch übergeordnete Behörden veröffentlichen Statistiken oft erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung.
So präsentierte die Polizeibehörde Europol erst vor zwei Wochen die jüngsten Zahlen für die EU-Mitgliedstaaten bis Ende 2023. Sie zeigen, dass die Zahl der versuchten und der durchgeführten Terroranschläge in der EU erheblich gestiegen ist: von 28 im Jahr 2022 auf 120 im Jahr 2023. Zudem wurden 426 Personen wegen Terrorverdachts festgenommen, zwölf Prozent mehr als im Jahr davor.
Ein Blick auf die Entwicklungen der letzten zehn Jahre zeigt jedoch, dass die Terrorgefahr vor den Pandemiejahren 2020 und 2021 deutlich höher war. In den Jahren zuvor hatten die EU-Länder im Durchschnitt rund 170 versuchte Terroranschläge und 950 Festnahmen pro Jahr verzeichnet. Besonders zwischen 2014 und 2017 erschütterten grosse Attentate in Paris, Nizza, Berlin, Manchester und Barcelona den Kontinent. Allein beim Terroranschlag in Nizza 2016, als ein Attentäter mit einem Lastwagen in eine Menschenmenge raste, wurden 86 Menschen getötet und über 400 verletzt.
Geringe Zahl islamistischer Anschläge
Im Mittelpunkt standen damals Täter mit islamistischen Motiven. Europol versteht darunter Anhänger einer gewalttätigen Form des Salafismus, die Gewalt legitimieren, um einen islamischen Staat zu errichten, und alle, die ihre Auslegung der Scharia ablehnen, als Feinde betrachten. Die neuen Zahlen zeigen jedoch, dass Anschläge mit islamistischem Hintergrund in letzter Zeit zwar ebenfalls wieder zugenommen haben, aber in der Gesamtmenge eine geringere Rolle spielten.
Von den 120 Terroranschlägen, die im vergangenen Jahr entweder erfolgreich waren, scheiterten oder vereitelt wurden, stammte der Grossteil von separatistischen Terrorgruppen. Im Fokus dieser Angriffe stand Korsika, die zu Frankreich gehörende Mittelmeerinsel, wo Gruppen wie der Fronte di Liberazione Naziunale Corsu und die Ghjuventù Clandestina Corsa wiederholt zuschlugen. Alle 70 Attacken wurden erfolgreich durchgeführt, jedoch gab es weder Verletzte noch Todesopfer.
An zweiter Stelle standen Anschläge linksextremer Akteure, die vor allem in Italien zuschlugen – und das meist erfolgreich. Währenddessen gelang es den Sicherheitskräften, neun von vierzehn geplanten Attacken mit islamistischem Hintergrund rechtzeitig zu vereiteln.
Eine der Hauptgefahren für Europa
Trotzdem stuft Europas Polizeibehörde den islamistischen Terror als eine der grössten Bedrohungen für die Sicherheit der EU ein. Denn während Separatisten und Linksextreme vor allem Infrastruktur und Sachwerte mit Brand- und Sprengsätzen angreifen, hinterlassen islamistische Attentate die schwersten Opferbilanzen.
So forderten die Attacken in Frankreich, Belgien, Deutschland und Spanien, die 2023 gelangen, sechs Tote und ein Dutzend Verletzte. 2024 kamen bei islamistischen Anschlägen in Zürich, Mannheim und Solingen insgesamt vier Menschen ums Leben, während fünfzehn weitere verletzt wurden. Dabei nutzten die Täter fast ausschliesslich Stich- oder Schusswaffen.
Die blutigen Folgen islamistischer Anschläge haben dazu geführt, dass ein Grossteil der Ressourcen und der Aufmerksamkeit auf die Bekämpfung islamistischer Bedrohungen gerichtet wird. Andere Gefahren, wie Linksextremismus und separatistische Bewegungen, sowie Personen ohne klare Zugehörigkeit zu einem gängigen Milieu finden weniger Beachtung. Auch die Festnahmen wegen Terrorverdachts zeigen: Die Mehrheit der Verdächtigen, die in der EU unter Terrorverdacht festgenommen wurden, steht in Verbindung mit islamistischen Aktivitäten.
Die Zahl der Festnahmen im Zusammenhang mit islamistischen Terroraktivitäten stieg 2023 um 25 Prozent, von 266 im Jahr 2022 auf 334. Insgesamt wurden im vergangenen Jahr über 400 Personen festgenommen. In mehr als zwei Dritteln dieser Fälle endete dies mit einer Verurteilung, hauptsächlich wegen der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation, in 65 Fällen wegen der Vorbereitung eines Anschlags.
Die meisten Verdächtigen wurden in Frankreich, Belgien und Spanien festgenommen, wobei in Frankreich auch die meisten Anschläge geplant und verübt wurden. In Deutschland gab es 51 Festnahmen von Terrorverdächtigen im vergangenen Jahr. Auch die Sicherheitsbehörden in der Schweiz meldeten 2023 die Verhaftung von vier Personen wegen Unterstützung von Terrororganisationen. Die Zahl der Festnahmen ist 2024 stark gestiegen: Laut dem Nachrichtendienst des Bundes wurden in der Schweiz elf Personen wegen des Verdachts auf islamistische Aktivitäten festgesetzt.
Der Täter von Magdeburg fällt aus dem Muster
Alle in der Schweiz verhafteten Terrorverdächtigen waren jünger als 18 Jahre, der jüngste unter ihnen ein 11-jähriger Bub aus dem Wallis. Europol stellt ebenfalls fest, dass Täter und potenzielle Täter zunehmend jünger werden. Obwohl nach wie vor überwiegend Männer betroffen sind, sank ihr Durchschnittsalter 2023 auf 20 Jahre. Während die Mehrheit der Verhafteten eine EU-Staatsbürgerschaft hatte, haben viele Täter einen Migrationshintergrund.
Das Profil des mutmasslichen Täters von Magdeburg weicht von den gängigen Terrormustern in Europa ab. Zwar handelt es sich um einen Mann mit saudiarabischem Hintergrund, er ist jedoch 50 Jahre alt und arbeitete mit unbefristetem Aufenthaltstitel als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Vor allem aber ist er kein Islamist, sondern offenbar ein vehementer Anti-Islamist. Dennoch wählte er für seine Amokfahrt einen Weihnachtsmarkt als Ziel und ein Fahrzeug als Tatwaffe – ein Vorgehen, das im vergangenen Jahrzehnt vor allem von islamistischen Attentätern genutzt worden war, mit einer ähnlich blutigen Bilanz.