Es ist ein Déjà-vu mit System: Kaum gewinnt die türkische Wirtschaft an Vertrauen, sorgt Präsident Erdogan für den nächsten Rückschlag. Dieses Mal mit der Verhaftung seines stärksten Gegners.
Das Muster wiederholt sich alle paar Jahre: Jedes Mal, wenn die türkische Wirtschaft wieder Anlass zu verhaltenem Optimismus liefert, grätscht Recep Tayyip Erdogan ins Geschehen und macht einen grossen Teil der Fortschritte zunichte. Das zeigt sich auch derzeit, knapp eine Woche nach der Verhaftung von Erdogans grösstem politischem Rivalen, dem Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu.
Schwache Lira heisst hohe Teuerung
Die Festnahme von Imamoglu, der aufgrund seiner Popularität als der aussichtsreichste Konkurrent von Erdogan bei den für 2028 geplanten Präsidentschaftswahlen gilt, hat den türkischen Finanzmarkt erschüttert. Die Landeswährung Lira sackte gegenüber dem Dollar zeitweise um 11 Prozent auf ein Rekordtief ab und verzeichnete den grössten Einbruch seit der Währungskrise von Mitte 2023.
Für die türkische Bevölkerung sind das schlechte Nachrichten. Denn wenn die Lira an Wert verliert, droht die Inflation erneut in die Höhe zu schnellen. Dies deshalb, weil bei schwacher Währung die Importe teurer werden. Die mühsam errungenen Fortschritte beim Kampf gegen die chronisch hohe Teuerung – die Inflation sank von 75 Prozent im vergangenen Mai auf 39 Prozent im Februar – sind gefährdet.
Während die Lira vergangene Woche gegenüber dem Dollar knapp 4 Prozent an Wert verlor, verzeichnete der Leitindex am Istanbuler Aktienmarkt sogar ein Minus von 17 Prozent. Das entspricht dem stärksten Rückgang seit der Finanzkrise von 2008. Noch Anfang Jahr hatte die Börse stark zugelegt, in der Hoffnung auf eine weiter sinkende Inflation, rückläufige Zinsen und engere Beziehungen zur EU.
Niedrigere Zinsen sind derzeit aber kein Thema. Vielmehr musste die Zentralbank vergangene Woche den Zinssatz für kurzfristige Kredite von 44 auf 46 Prozent erhöhen. Um die Währung zu stützen, dürfte die Zentralbank zudem allein am Mittwoch mehr als 10 Milliarden Dollar an Devisenreserven auf den Markt geworfen haben – eine Intervention, die half, den Kursrückgang abzubremsen.
Krisentreffen am Sonntag
Auch am Sonntag kam es zu diversen Krisensitzungen von Vertretern der Zentralbank, der Aufsichtsbehörde und der Geschäftsbanken. All dies mit dem Ziel, die Unruhe an den Märkten weiter einzudämmen. Beschlossen wurde dabei unter anderem ein Verbot von Leerverkäufen, mit denen Investoren von fallenden Kursen profitieren können, und eine Lockerung der Regeln für Aktienrückkäufe, was kursstützend wirkt.
Ob die Interventionen helfen werden, die Märkte zu stabilisieren, werden die kommenden Tage und Wochen zeigen. Offenkundig ist: Die staatliche Willkür im Umgang mit Oppositionellen hat den Investoren einmal mehr die Unberechenbarkeit von Präsident Erdogan vor Augen geführt. Als Folge sind auch bei türkischen Staatsanleihen die Renditen – ein Mass für die Höhe des Risikos – steil nach oben geschossen.
Besonders bitter dürften die jüngsten Rückschläge für Mehmet Simsek sein. Der erfahrene Ökonom steht seit Juni 2023 an der Spitze des Finanzministeriums und geniesst bei Investoren viel Vertrauen. Er hat massgeblich dazu beigetragen, dass die Wirtschaftspolitik wieder einen verlässlicheren Kurs verfolgte und die Rating-Agentur Moody’s im Juli erstmals seit einem Jahrzehnt die Kreditwürdigkeit des Landes anhob.
Auch die Geldpolitik bewegte sich jüngst wieder in geordneteren Bahnen. Nachdem Erdogan zuvor jahrelang darauf beharrt hatte, die Zinsen trotz hoher Inflation niedrig zu halten, übernahmen in den Zentralbanken Experten die Führung, die sich von Erdogans abstrusen Ansichten distanzierten und mit herkömmlichen Zinserhöhungen gegen die Inflation ankämpften. Der Erfolg gab ihnen recht.
Macht zählt mehr als Wirtschaft
Zwar lässt Erdogan sein Wirtschaftsteam weiterhin gewähren, was angesichts der autokratischen Führung des Präsidenten keine Selbstverständlichkeit ist. Doch mit seinem fehlenden Respekt für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung trägt er dazu bei, dass das zurückeroberte Vertrauen wieder schwindet und langfristig orientierte Investoren einen Bogen um die Türkei machen.
Für Anleger mit kurzem Zeithorizont mögen Zinsen von über 40 Prozent hingegen noch immer attraktiv sein. Tatsächlich zieht die Türkei viele sogenannte Carry-Trader an. Diese nehmen Kredite auf in einer niedrig verzinsten Währung und legen das Geld dann in hochverzinslichen Vermögenswerten an, etwa in der Türkei. Der Lira-Sturz hat nun aber zu Abflüssen aus solchen Geschäften geführt.
Auch viele Türken dürften sich von der Lira abwenden. Zwar versucht der Staat seine Bürger seit Jahren davon zu überzeugen, ihr Geld in Lira zu halten, statt es in härtere Währungen wie den Euro oder den Dollar umzutauschen. Doch die vergangenen Tage zeigen: Erdogan gewichtet sein politisches Machtmonopol weit mehr als die wirtschaftliche Stabilität. Solange dies so ist, bleibt die Lira eine flatterhafte Währung.