Kaum ein anderes Land hat so tiefe Staatsschulden wie die Schweiz. Deshalb bezahlt sie Zinsen, die bloss einen Bruchteil dessen betragen, was andere Staaten aufwerfen müssen. Überschuldete Staaten wachsen langsam und leben gefährlich.
Im weltweiten Vergleich ist die Schweiz eine absolute Musterschülerin: Innerhalb der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der 38 reiche und aufstrebende Ländern angehören, hat sie die zweittiefste Verschuldung. Diese wird relativ gemessen, an der Grösse der jährlichen Wirtschaftsleistung (BIP). In der Schweiz sind das 27 Prozent (Bund, Kantone, Gemeinden). Lediglich Estland schneidet noch ein wenig besser ab.
Im Schnitt stehen die OECD-Länder mit 83 Prozent ihres BIP in der Kreide. Und das, obwohl die erhöhte Teuerung in den letzten beiden Jahren eigentlich half, die Schuldenquote zu drücken: Inflation bläht das BIP – den Nenner in der Formel – künstlich auf.
Immer grössere Schuldenberge
Trotz dieser kurzen Verschnaufpause zeigt die Schuldenquote eigentlich nur in eine Richtung, nach oben. Zum Vergleich: Noch vor der Pandemie lag sie in den OECD-Ländern «erst» bei 73 Prozent.
Besser wird es bestimmt nicht: Die Politiker finden immer häufiger Gefallen an Industriepolitik und subventionieren etwa den Bau von Halbleiter- oder Batterie-Fabriken mit Steuergeldern. Viele Länder rüsten ihre Armeen auf und wappnen sich mit Milliardenausgaben für den Klimawandel. Und dann ist da noch die steigende Lebenserwartung. Sie treibt die Kosten für die umlagefinanzierte Altersvorsorge und das Gesundheitswesen Jahr für Jahr in die Höhe.
Auch die Bedienung der Schulden kostet heute mehr: 4 Prozent Zins bezahlten die OECD-Länder 2023 im Schnitt, ein Jahr zuvor war es noch 3 Prozent gewesen. Die Schweiz, die an den Finanzmärkten ein sehr hohes Vertrauen geniesst, kann sich viel günstiger verschulden. Sie spielt diesbezüglich in einer eigenen Liga. Die letzte Anleihe, die sie im Mai bei Investoren platzierte, wies trotz der langen Laufzeit eine Rendite von nicht einmal 0,7 Prozent auf.
Deutschland vernachlässigt seine Infrastruktur
Bei der Schuldenquote handelt es sich um Bruttozahlen, die nicht berücksichtigen, dass den Schulden auch Staatsvermögen gegenübersteht. Bei einer Nettobetrachtung würde die Schweiz wohl noch besser dastehen, da sie mehr investiert als andere Länder.
In Deutschland, wo es ebenfalls eine Schuldenbremse gibt, zeigt sich zum Beispiel immer deutlicher, dass der Staat während Jahren seine Infrastruktur vernachlässigte. Was das bedeutet, braucht man etwa den Kunden der Deutschen Bahn nicht weiter zu erläutern.
Das Anhäufen hoher Staatsschulden bleibt über Jahrzehnte scheinbar folgenlos, selbst wenn die Rating-Agenturen gelegentlich den Daumen senken. Das ist am Freitag gerade Frankreich passiert – einem Land, in dem die staatlichen Schulden das BIP übersteigen (109 Prozent): Die Rating-Agentur S&P stuft die Bonität von Frankreich neu eine Stufe tiefer ein.
Die Kapitalmärkte haben das kommen sehen. Für sie ist klar, dass schlechtere Schuldner mehr Zinsen berappen müssen als die Klassenbesten. Allerdings ist die Differenz im Normalfall nicht dramatisch: Paris zahlt rund 0,5 Prozent Zinsen mehr für seine Staatsanleihen als Berlin.
Plötzliches Verderben
Das Problem ist, das die masslose Schuldenmacherei lange gut gehen kann, dann aber plötzlich nicht mehr funktioniert. Die Gläubiger können quasi über Nacht in Panik geraten – was etwas absurd scheint, da sich eine Überschuldung ja während Jahrzehnten ankündet.
Dann wird es bitter, wie die Griechen ab 2010 erfahren mussten: Die Finanzmärkte zwangen Athen zum Bittgang nach Brüssel und Frankfurt, die fortan das Sagen hatten. Sie zwangen die griechische Regierung zu harten Sparmassnahmen, die das Land in eine tiefe Rezession stürzten. Viele Menschen verloren ihre Stelle und verarmten. Die Löhne im öffentlichen Sektor, die Renten oder Arbeitslosengelder wurden drastisch reduziert. Die Steuern dagegen stiegen, den griechischen Spitälern gingen die Medikamente aus, der Staat musste auf die Schnelle Firmen und Infrastruktur privatisieren.
Für Ökonomen ist aber klar, dass hoch verschuldete Länder auch dann Nachteile erfahren, wenn sie nicht im Fokus der Kapitalmärkte stehen wie damals Griechenland. Sie wachsen langsamer, das sieht man etwa an Italien und Japan.
In den USA, wo auf jede Bürgerin und jeden Bürger Staatsschulden in der Höhe von 103 000 Dollar entfallen, hat das parteiübergreifende Congressional Budget Office (CBO) gerade einen neuen Bericht zur finanziellen Lage der Nation veröffentlicht.
Nach Einschätzung des CBO reduziert jeder zusätzliche Dollar an Defizit-finanzierten staatlichen Ausgaben die privaten Investitionen um 33 Cents. «Der Rückgang der privaten Investitionen verringert den Bestand an privatem Kapital und der Wirtschaftsleistung im Laufe der Zeit.»
Dieser wohlstandsverringernde Effekt kostet Politiker allerdings kaum je die Wiederwahl. Er bahnt sich langsam an, und nur Insider verstehen den Zusammenhang zwischen hohen Staatsschulden und tiefem Wirtschaftswachstum.