Das gelebte Leben in der Ukraine ist zweisprachig, ukrainisch-russisch. Dennoch gelang es dem Kreml, eine vermeintliche Diskriminierung des Russischen zu Kriegszwecken zu instrumentalisieren. Dabei ist es umgekehrt das Ukrainische, das lange unter massiver Verfolgung litt.
Die letzte offizielle Volkszählung in der Ukraine fand 2001 statt. Damals machte die russische Minderheit siebzehn Prozent der Bevölkerung aus. Das scheint im Widerspruch zur Tatsache zu stehen, dass die Hälfte der vor dem russischen Angriffskrieg geflohenen Ukrainer in westeuropäischen Ländern sich hörbar des Russischen bedienen. Handelt es sich denn um Russen? Mitnichten. Sondern vor allem um russischsprachige Ukrainer aus dem Osten und dem Süden.
Russisch wird in der Ukraine von etwa vierzig Prozent der Bevölkerung gesprochen. Vierunddreissig Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion wird in dem Land (sowie in anderen postsowjetischen Ländern) zu einem erheblichen Teil Russisch von Nichtrussen gesprochen. Das hat denselben Grund wie die Tatsache, dass in sehr vielen von Grossbritannien weit entfernten nicht englischsprachigen Ländern die englische Sprache weit verbreitet und tief verwurzelt ist: die Jahrhunderte dauernde koloniale Unterwerfung.
Im Westen sind postkoloniale Studien längst en vogue, doch der imperiale Charakter Russlands und der Sowjetunion wurde bis zum Kriegsbeginn im Februar 2022 höchstens in Akademikerkreisen thematisiert. Die wichtigsten Merkmale kolonialer Herrschaft treffen auf die Herrschaft der Zaren wie der Kommunistischen Partei eindeutig zu, wenn auch in den sowjetischen Verfassungen offiziell Antiimperialismus, Gleichberechtigung aller Republiken und das Recht auf den Austritt aus der Union proklamiert wurden.
Sowjetunion gleich Russland
Ein wichtiges Merkmal des Kolonialismus ist neben der Unterdrückung der besiegten Menschen und der Ausbeutung von Rohstoffen die Zerstörung von lokalen Sprachen und nationalen Identitäten durch die imperiale Macht. Russland war in diesem Sinne so erfolgreich, dass es als politische Entität zwischen 1918 und 1991 ausserhalb der sowjetischen Grenzen kurzerhand mit der Sowjetunion gleichgesetzt wurde.
Ende 1932 fasste in Moskau die Kommunistische Partei den Beschluss, dass «bürgerlich-nationalistische» Elemente aus allen sowjetischen Strukturen entfernt werden sollten. Viele in der Ukraine geborene und ukrainischsprachige Parteifunktionäre, die sich weigerten, den hungernden Bauern das letzte Brot vom Mund zu entreissen, wurden des Nationalismus beschuldigt und verhaftet. 1933 schickte Stalin Pawel Postyschew als Sekretär des Zentralkomitees in die Ukraine. Ihm nach folgten etwa dreitausend russische Parteigenossen. Die ukrainische Kultur geriet unter den Generalverdacht politischer Unzuverlässigkeit.
Dem Holodomor, der von Stalin mitorganisierten Hungersnot, der mindestens dreieinhalb Millionen ukrainischer Bauern zum Opfer fielen, folgte der brutale stalinistische Terror der dreissiger Jahre. Eineinhalb Millionen Einwohner der Ukrainischen Sowjetrepublik wurden verhaftet, ein erheblicher Teil zur Zwangsarbeit nach Sibirien deportiert, viele erschossen. Tausende von Wissenschaftern, Geistlichen, Schriftstellern und Künstlern wurden hingerichtet.
In die östlichen und südlichen Gebiete der Ukraine, in den Donbass, wo die Städte heute russischsprachig sind, zogen gleichzeitig wegen der zunehmenden Industrialisierung Arbeiter aus der ganzen Sowjetunion. Im Donezk der früheren dreissiger Jahre waren etwa achtzig Prozent der Schulen ukrainischsprachig. In den siebziger Jahren wurde die letzte von ihnen geschlossen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich die Russifizierung der Ukraine auch unabhängig von der Industrialisierung fort. 1961 verabschiedete der XXII. Parteitag der KPdSU ein neues Programm: die «Verschmelzung der Nationen der Sowjetunion zu einem einheitlichen Sowjetvolk». Russisch sollte zur verbindlichen Sprache dieses Sowjetvolkes werden. In den nächsten Jahrzehnten wurde die chauvinistische Assimilationspolitik weitergeführt. Die ukrainische Sprache sollte aus allen wichtigen Sphären der Gesellschaft verschwinden. Sie wurde abgewertet, subtil und auch offen, was dazu führte, dass immer mehr Ukrainer es vermieden, ihre Muttersprache in der Öffentlichkeit zu gebrauchen. Ukrainisch durfte zwar die Sprache des Dorfes bleiben, in den Städten aber sprach «man» Russisch.
In der Verfassung der unabhängig gewordenen Ukraine 1996 ist das Ukrainische als die einzige Staatssprache des Landes festgelegt worden. Es ist naheliegend, dass die Bevölkerung eines Landes, in dem nach der Volkszählung 2001 Ukrainer 77 Prozent ausmachen, Ukrainisch zur Amtssprache wählt. Was nicht heisst, dass die Sprachen der Minderheiten, Russisch oder Krimtatarisch, verboten wurden, sie können frei existieren und sich entwickeln.
In seiner Rede an die Nation von 2005 bezeichnete Putin den Zerfall der Sowjetunion als «die grösste Katastrophe des 20. Jahrhunderts». Zu Beginn der nuller Jahre eröffnete Russland in der Ukraine diverse Vertretungen, wie etwa jene der Organisation Landsleute, die vom russischen Präsidenten ins Leben gerufen worden war. Auf dem ersten Landsleute-Kongress sprach Putin 2001 von der Notwendigkeit, eine geeinte russische Welt («Russki Mir») zu schaffen, und betonte, dass dies eine der Hauptaufgaben der russischen Staatspolitik werden sollte. Putin unterstrich, dass die russische Sprache ein verbindender Faktor für alle Menschen sei, die sich der russischen Kultur zugehörig fühlten. Jedes Gebiet, in dem ein erheblicher Teil der Bevölkerung Russisch spreche, solle Teil der «russischen Welt» werden.
In der «russischen Welt»
Für den Kreml wurde Russisch zum mächtigen Instrument, das Imperium zusammenzuhalten, und der Anspruch aller grösseren Gruppen von Russen auf Teilhabe an der «russischen Welt» fand seinen Zweck natürlich auch darin, die nach Unabhängigkeit strebende Ukraine nicht aus dem russischen Einflussbereich zu entlassen. Die wichtigsten ukrainischen Medien gerieten nicht zufällig in den Besitz von Russland gegenüber loyalen Unternehmern, und diese wiederum beschäftigten russische Manager und Journalisten. In den populärsten ukrainischen Fernsehkanälen liefen russische Serien, Shows und Konzerte. Von der Regierung in Kiew zu wenig geförderte und unterfinanzierte ukrainischsprachige Produktionen erhielten dagegen nur marginal Platz oder wurden als «unpassendes Format» von Radio- und Fernsehsendern abgelehnt.
Während der Präsidentschaft von Wiktor Janukowitsch 2012 setzte Wadim Kolesnitschenko, Abgeordneter des ukrainischen Parlaments und zugleich Vorsitzender der Organisation Landsleute, entgegen den Regeln der Parlamentsordnung das Gesetz über die Grundsätze der staatlichen Sprachpolitik durch. Das Gesetz war manipulativ: Neben der Staatssprache wurde das Konzept der Regionalsprachen eingeführt. Dieser Status sollte einer Sprache zustehen, wenn die Zahl ihrer Sprecher mindestens zehn Prozent der Bevölkerung einer Region ausmacht. Das Gesetz zielte vor dem Hintergrund von Moskaus neoimperialen Ambitionen darauf ab, die verfassungsmässige Ordnung der Ukraine und ihre territoriale Integrität zu verletzen. Der Kreml begrüsste das Gesetz: Im Jahr 2013 zeichnete Präsident Putin Wadim Kolesnitschenko mit der Puschkin-Medaille aus.
Am 28. Februar 2018 erklärte das ukrainische Verfassungsgericht das Gesetz für verfassungswidrig und für ungültig. Im April 2019 wurde vom ukrainischen Parlament das Gesetz über die Sicherstellung der Funktion des Ukrainischen als Amtssprache verabschiedet. In öffentlichen, kulturellen und medizinischen Einrichtungen sowie im Bildungswesen solle, so wurde hier festgelegt, fortan verfassungsgemäss Ukrainisch als amtliche Sprache gebraucht werden. Ukrainischsprachige Zeitschriften und Zeitungen sollen beim Kioskangebot mindestens fünfzig Prozent der erhältlichen Periodika ausmachen.
Die private Kommunikation und der Sprachgebrauch im religiösen Bereich werden durch das Gesetz nicht eingeschränkt. Auch ist es nicht verboten, in den Schulen Russisch zu unterrichten. Das Sprachgesetz garantiert Minderheitenangehörigen das Recht, sich in kommunalen Bildungseinrichtungen auch ihre eigene Sprache anzueignen. Dafür müssen Eltern einen entsprechenden Antrag bei der Gemeindeverwaltung stellen. Im Jahr 2022 ist die Zahl der Schüler, die an ukrainischen Schulen Russisch lernen, gleichwohl massiv zurückgegangen.
In westlichen Medien wird das ukrainische Sprachgesetz immer gern als «nicht unumstritten» bezeichnet. Es besteht in der Ukraine jedoch ein breiter Konsens darüber, dass die Zeit gekommen ist, die russische koloniale Vergangenheit ein für alle Mal hinter sich zu lassen. In Weissrussland sind sowohl das Russische als auch das Weissrussische Amtssprache, aber Weissrussisch wird an den Rand gedrängt. Deshalb ist es für die Ukraine geboten, sprachpolitisch das Heft in die Hand zu nehmen. Nicht vergessen werden sollte daneben auch, dass laut Unesco in der Russischen Föderation über hundert Minderheiten-Sprachen gefährdet sind.
Die Ukrainerin Halyna Petrosanyak ist Autorin und Übersetzerin, sie lebt seit 2016 in der Schweiz.