Es stehen viele Gründe im Raum, warum Russland die Ukraine überfallen hat. Zu ihnen zählt die Tatsache, dass die Energiewende den russischen Ölstaat zu einem Verlierer machen würde. Abhilfe bieten die ukrainischen Rohstoffe.
Im November 2010 nahm Wladimir Putin an einem Wirtschaftsforum in Berlin teil, wo er seine Verwunderung über Deutschlands «sonderbare» Energiepolitik zum Ausdruck brachte. «Ich verstehe nicht, womit ihr heizen werdet. Ihr wollt kein Gas, auch die Atomenergie entwickelt ihr nicht weiter. Werdet ihr etwa mit Holz heizen?» Im Saal ertönte Gelächter. Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: «Selbst fürs Holz müsste man nach Sibirien fahren. Ihr habt doch keins.»
Gerade war der Ölpreis auf über 100 Dollar geklettert, Russland schwamm in steigenden Einnahmen aus dem Handel mit Gas und Öl, und der angekündigte Abschied der Bundesrepublik von fossilen Energieträgern mutete bedrohlich an. Für Russland als Ressourcenstaat würde die Energiewende das Ende als Energiegrossmacht und damit die Schwächung seines machtpolitischen Einflusses in Europa bedeuten.
Wer über den Ausnahmezustand gebietet
Wie Moskau auf diesen Schock hätte reagieren können, wurde dem westlichen Publikum in dem vom Bestsellerautor Jo Nesbø konzipierten norwegischen Politthriller «Occupied – die Besatzung» (2015) vor Augen geführt. Während die USA der Nato den Rücken kehren und in Norwegen mehrere hundert Menschen einem durch den Klimawandel verursachten Hurrikan zum Opfer fallen, trifft der grüne Ministerpräsident Jesper Berg die Entscheidung, die Förderung fossiler Rohstoffe per sofort einzustellen und stattdessen einen Thorium-Reaktor zu bauen. Die russische Regierung will das nicht hinnehmen. Doch auch die von der Energiekrise geplagte EU sucht den Ausstieg aus Öl und Gas zu verhindern und willigt in die russische Invasion Norwegens ein, mit der eine Weiterförderung fossiler Energieträger erzwungen werden soll.
Russische Kommandos besetzen Gas- und Ölplattformen und kapern die Institutionen des souveränen Staates. Unternehmen werden schleichend enteignet. Die Invasoren kapern das Rechtssystem, setzen eigene Richter ein und bestimmen so die Entscheidungen der Gerichte. Im Land tummeln sich russische Agenten ebenso wie zwielichtige Oligarchen. Gegen die russische Besetzung indes regt sich sowohl bei der norwegischen Jugend als auch bei Teilen des Militärs Widerstand. Es kommt zu bewaffneten Anschlägen. Die Regierung in Oslo zerbröselt zwischen dem patriotischen Aufbegehren der Bevölkerung und dem Druck der Invasionsmacht.
Es ist kein Zufall, dass die erste «Occupied»-Staffel kurz nach der russischen Invasion der Krim und dem Beginn des hybriden Krieges im Donbass herauskam. Der Kreml reagierte auf die Serie gar mit einer offiziellen Protestnote: Der Film suggeriere in «sensiblen Zeiten» verantwortungslos «eine Gefahr aus dem Osten». Jo Nesbø machte damals deutlich, dass es ihm nicht primär um Russland, sondern um eine fiktionale Auseinandersetzung mit der Frage gegangen sei, wie scheinbar stabile demokratische Gesellschaften plötzlich in ihren Grundfesten erschüttert werden könnten. Doch dem Schriftsteller dürfte klar gewesen sein, dass der Plot des Films im realen geopolitischen Kontext nur mit Russland als Besetzungsmacht glaubwürdig funktionierte.
Auf Gasentzug
Während die Serie ab September 2015 in Norwegen ausgestrahlt wird, schreibt Deutschland seine Energieabhängigkeit von Russland fort, indem es eine weitere Gaspipeline in der Ostsee, Nord Stream 2, zum Bau freigibt. Gazprom als energiepolitischer Arm des Kremls steht kurz davor, sich eine Beinahe-Monopolstellung als Produzent, Lieferant und Speicherbetreiber in Deutschland zu sichern. Von Anfang an geht es dem Kreml um nichts anderes als die Ausschaltung des Gastransits durch die Ukraine, die damit eine umso leichtere Beute für eine Invasion darstellt. Die Warnungen osteuropäischer Staaten, allen voran Polens, stossen in Berlin auf taube Ohren.
Dabei soll, so der Plan der deutschen Regierung, das Erdgas aus Russland, für dessen zusätzliche Lieferung gar keine weiteren Pipelines nötig gewesen wären, als Brückentechnologie nur so lange erhalten bleiben, bis die Energiewende vollzogen wäre. Gegenüber 1990 muss der Ausstoss von Treibhausgasen bis zum Jahr 2030 um mindestens 65 Prozent und bis zum Jahr 2040 um mindestens 88 Prozent sinken. Bis 2045 soll Deutschland treibhausgasneutral sein. Kein Wunder, bereitet die Perspektive der bevorstehenden «grünen Wende» den «extraktiven Eliten» in Russland zunehmend Sorge.
2019 verabschiedet das russische Energieministerium eine neue «Doktrin der Energiesicherheit der Russländischen Föderation», die ihre künftige Entwicklung ausschliesslich auf der Basis von Öl, Gas und Kohle festschreibt. Die Forcierung «internationaler Anstrengungen bei der Realisierung der Klimapolitik» und der beschleunigte Übergang zur «grünen Ökonomie» werden darin als eine besondere Herausforderung bewertet. Russland betrachtet «die Verletzung der Interessen von Staaten, die Ressourcen produzieren, als inakzeptabel».
In Putins engstem Umfeld, wie der Gas- und Öl-Analytiker von Rusenergy, Michail Krutichin, berichtete, soll die Klimapolitik sogar Verschwörungstheorien genährt haben: Danach seien «grüne Energien» im Westen extra dafür erfunden worden, um Russland «in die Ecke zu treiben und seine Entwicklung zu verhindern».
Der Chefsoziologe des Moskauer Lewada-Zentrums für Meinungsforschung, Alexei Lewinson, glaubt belegen zu können, dass 2021 bei der russischen Führung zur Gewissheit wurde, dass die europäischen Klimaziele üppige Einkünfte «fossiler Eliten» und den Grossmachtstatus Russlands bedrohten. Auf den sich abzeichnenden Paradigmenwechsel reagierte Gazprom im April 2021 mit dem Herunterfahren der Gaslieferungen nach Europa. Dieses sollte im Winter eingefroren und in die Knie gezwungen werden, schreibt Michail Krutichin, der keinen Zweifel darüber hat, dass nur Putin persönlich die Gasblockade Deutschlands hat anordnen können. In dem Augenblick, als klarwurde, dass die Erpressung mit dem Gasentzug ins Leere lief, marschierten russische Militäreinheiten in die Ukraine ein.
Schwindelerregender Reichtum
Das Selbstbild Russlands als Energiegrossmacht beruht auf den enormen Einnahmen aus den Rohstoffexporten und seinem politischen Einfluss auf europäische Staaten. Die Energiewende aber schafft neue Abhängigkeiten, denn die klimafreundlichen Technologien – wie Windräder, Photovoltaik, E-Auto-Batterien – sind auf seltene Erden angewiesen. Sie in Europa zu fördern, käme wegen hoher Umweltauflagen, niedriger Akzeptanz bei der Bevölkerung und beträchtlicher Arbeitskosten viel zu teuer. Deswegen werden sie aus China und anderen Ländern des globalen Südens importiert.
Allerdings gibt es in Osteuropa einen Staat, der nach Schätzung des kanadischen SecDev mit 800 Lagerstätten von 94 unterschiedlichen Bodenschätzen den vierten Platz in der Welt einnimmt. Es handelt sich um die Ukraine. Der Wert von Vorkommen seltener Erden und von Lithium allein wird auf rund 11,5 Billionen Dollar geschätzt. Die Vermutung liegt nahe, dass durch diesen im Krieg eroberten, schwindelerregenden Reichtum an Bodenschätzen Europa von Russland noch abhängiger würde als zuvor in Bezug auf Öl und Gas.
In seinem Aufsatz «Lithium und der Tod», der im September 2022 auf der Website des rechtsnationalistischen Think-Tanks «Isborskij Klub» erschienen war, warf der ehemalige Leiter der russischen Sektion von Interpol, General Owtschinski, den USA vor, Krieg um das «weisse Gold» zu führen und sich die ukrainischen Bodenschätze unter den Nagel reissen zu wollen. Die russische Spezialoperation habe daher das Ziel, so Owtschinski, der Aneignung ukrainischer Lithium-Lager durch die Amerikaner zuvorzukommen.
Wahr ist aber auch, dass das australische Unternehmen European Lithium Ende 2021 kurz davor stand, die Schürfrechte für Lithium-Vorkommen im Gebiet Donezk und in Kirowograd zu erhalten. Fast zeitgleich hatte auch das chinesische Unternehmen Chengxin Lithium dafür einen Antrag gestellt.
Die Gier nach seltenen Erden, die das «schwarze Gold» als Zündstoff für Kriege abgelöst zu haben scheinen, mag nicht der einzige Grund für den russischen Überfall auf die Ukraine gewesen sein. Doch Lithium und andere Bodenschätze, an denen das gebeutelte Land unglaublich reich ist, könnten durchaus als Katalysator für die Invasion fungiert haben. Denn mit Kiews Verankerung im Westen und dem EU-Beitritt der Ukraine werden Russland strategisch wichtige Rohstoffe und damit geopolitischer Einfluss verlorengehen.
Bergs Klima-Utopie
In der dritten Staffel von «Occupied – die Besatzung» werden fast alle politischen Kräfte Norwegens von Russland kontrolliert. Seine Einflussagenten manipulieren die Öffentlichkeit, um vom Kreml abhängige Politiker an die Macht zu hieven, und scheuen dabei nicht einmal vor Folter zurück.
Dem flüchtigen grünen Ministerpräsidenten Jesper Berg, der des Mordes an seiner Amtsvorgängerin verdächtigt wird, droht ein Strafverfahren. Er taucht ab und schliesst sich einer radikalen Widerstandsgruppe von Hackern und Klimaschützern an, welche die Russen vertreiben und Bergs Dekarbonisierungs-Utopie vollenden wollen. Ihnen gelingt es, das Stromnetz in Moskau zu kapern und ein Blackout herbeizuführen. Jesper Berg verlangt via TV von Russland Reparationen für die Schäden, die es dem Klima mit fossilen Rohstoffen angetan haben soll. Seine Gesinnungsgenossen ruft er zum Krieg um die Rettung des Klimas auf. Denn Demokratie allein wird den Planeten nicht retten.
Es entzieht sich Bergs Vorstellung, dass bald schon der Kampf um das «weisse Gold» der IT-Industrie entbrennen wird, so wie früher der Kampf ums Erdöl. Wo es um geopolitische Vorherrschaft geht, könnte das, was wir in der Ukraine erleben, nur ein Vorgeschmack sein.
Sonja Margolina, 1951 in Moskau geboren, lebt als Publizistin und Buchautorin in Berlin.