Soldaten kritisieren schwache Verteidigungslinien und mangelnde Koordination. Die Lage an der Front stabilisiert sich langsam. Doch nun fragt man sich in Kiew, wo der nächste Stoss erfolgt.
Unter russischem Feuer haben die ukrainischen Behörden in den letzten Tagen Tausende von Zivilisten aus dem Norden der Region Charkiw evakuiert. In Wowtschansk landen fast im Minutentakt tonnenschwere Bomben. Und doch weigern sich einige hundert Bewohner, die Stadt zu verlassen. Sie wollen ihre Heimat nicht zum zweiten Mal verlieren, nachdem Russland die Region bereits im Frühjahr 2022 besetzt hatte.
Die Ukrainer mussten sich seit Freitag laut der Website Deep State Map aus einem Gebiet von 115 Quadratkilometern zurückziehen. Weitere 75 Quadratkilometer sind umkämpft. Im Rahmen ihres Vorstosses konnten die Russen rund ein Dutzend Dörfer besetzen. Sie rückten auch am Dienstag noch vor, stossen nun aber auf besser organisierte ukrainische Verteidiger und Gegenangriffe. Unübersichtlich bleibt die Lage in Wowtschansk, der bedeutendsten Ortschaft in Grenznähe, wo zumindest in den Aussenquartieren Strassenkämpfe toben.
Ukrainische Soldaten klagen über Verteidigungslinien
Militärangehörige äussern Zweifel daran, ob die Ukrainer die Stadt halten können. Für Aufsehen sorgte besonders der Facebook-Post von Denis Jaroslawski, dem Kommandanten einer der in die Kämpfe verwickelten Einheiten. Er schrieb, Wowtschansk sei praktisch umzingelt, die Versorgung sei sehr schwierig. Das Fehlen von Verteidigungsstellungen zwischen Wowtschansk und der Grenze habe zu dieser Lage geführt. «In zwei Jahren hätte es Betonbefestigungen mit drei unterirdischen Stockwerken geben müssen! Es gab nicht einmal Minen.»
Dass Wowtschansk kaum auf einen Angriff vorbereitet war, musste indirekt auch der Leiter der Lokalbehörden einräumen. «Alles wurde gebaut, aber vielleicht nicht so dicht», erklärte Tamas Gambaraschwili. Er gab aber zu bedenken, dass die Stadt seit ihrer Befreiung 2022 ständig unter Beschuss gestanden habe, da sie nur vier Kilometer von der Grenze entfernt liege. Unter diesen Bedingungen zu bauen, sei lebensgefährlich. Experten monierten aber auch, in der Region hätten viele Befestigungen an den falschen Stellen gestanden, da die Koordination mit den Militäreinheiten vor Ort mangelhaft gewesen sei.
Angesichts der beschränkten Kräfte, welche die Russen einsetzten, stellen sich die Ukrainer aber ebenso die Frage, weshalb ihre Streitkräfte den Angriff nicht früher abwehrten. Laut dem Kiewer Analysten Alexander Kotschetkow griff der Feind nicht wie früher frontal mit Panzern an, sondern mit kleinen, manövrierfähigen Truppen. Die verwirrten, wenig kampferprobten und zu wenig gut koordinierten Verteidiger konnten den Vormarsch erst nach dem Verlust wichtiger Positionen stoppen.
Dass die Ukrainer überrascht wurden, erstaunt. Schliesslich war ihnen seit Monaten klar, dass ein Angriff drohte. Laut Medienberichten hatte der Militärgeheimdienst das Kommando Charkiw gar detailliert über die Vorbereitungen und den Zeitpunkt informiert. Der für Charkiw zuständige General Juri Haluschkin wurde am Wochenende abgesetzt. Dessen Nachfolger Mihailo Drapati hat zumindest unter kritischen Militärjournalisten einen deutlich besseren Ruf.
Kiew braucht Reserven für die Front
Auch wenn der Leiter des ukrainischen Militärgeheimdienstes (HUR), Kirilo Budanow, eine Stabilisierung der Front erst in den nächsten paar Tagen erwartet, hat sich der russische Vormarsch klar verlangsamt. Moskau hat bisher keine grösseren zusätzlichen Einheiten in die Gegend verlegt und beschränkt sich laut dem Institute for the Study of War auf die Konsolidierung einer Pufferzone an der Grenze.
Die Ukrainer hingegen mussten Reserven aus anderen Frontabschnitten herbeiführen, unter anderem Drohnenpiloten der 42. Mechanisierten Brigade. Die kampferprobten Soldaten hatten zuvor in der Nähe der strategisch wichtigen Kleinstadt Tschasiw Jar gekämpft. Viel Spielraum besteht dabei für Kiew nicht, wie Budanow auch der «New York Times» bestätigte: «All unsere Kräfte sind hier oder in Tschasiw Jar, ich habe alles verwendet, was wir haben.»
Dass die Schwächung der ukrainischen Donbass-Front ein Hauptziel der russischen Charkiw-Operation darstellt, scheint klar. Vorgerückt sind die Angreifer dort bisher zwar nicht. Doch vor allem letzte Woche haben sie die Intensität der Angriffe entlang von Teilen der Front erhöht, so im Abschnitt von Kreminna, der am südlichen Ende der Region Charkiw liegt. Auch hier halten die Verteidigungslinien.
Die Gefahr ist damit keineswegs gebannt, zumal die Russen durch ihre Überlegenheit an Personal und Ausrüstung neue Fronten eröffnen können. Auch wenn eine Eroberung der Metropole Charkiw gegenwärtig ausser Reichweite liegt, fürchten die Ukrainer nordwestlich davon weitere Vorstösse über die Grenze. Die Angriffe mit Artillerie und aus der Luft haben laut lokalen Einheiten jedenfalls zugenommen.
Will Russland «nur» Chaos und Panik säen?
Die Russen haben zudem in der Gegend Kräfte auf ihrem Staatsgebiet zusammengezogen, die auch gegen die ukrainische Gebietshauptstadt Sumi eingesetzt werden könnten. Laut dem HUR-General Budanow planen sie eine solche Operation seit langem. Allerdings erlaube es «die Lage» momentan nicht, sie umzusetzen, wobei der Geheimdienstler die Gründe dafür in für ihn typischer Zweideutigkeit offenliess.
Ob Moskau weitere solche Angriffe lanciert, hängt dabei zweifellos davon ab, wie man dort die begrenzte Charkiwer Operation bewertet. Radikal verändert hat sie die Lage an der Front nicht. Verunsichert hat sie die Ukrainer aber sehr wohl. Wenn Budanow deshalb sagt, ihr Ziel sei «das Säen von Panik und Chaos» gewesen, hat sie dies mit begrenztem Aufwand zumindest kurzzeitig erreicht.