Während die ukrainischen Truppen an der Front unter Druck stehen, versuchen sie den Gegner weit im Hinterland zu treffen. Manches deutet darauf hin, dass die USA den Ukrainern heimlich weitere Atacms-Raketen geliefert haben.
Die ukrainischen Streitkräfte haben am Mittwoch einen ihrer grössten Luftangriffe der vergangenen Monate ausgeführt und Russland nach unbestätigten Berichten herbe Verluste zugefügt. Im Visier standen Ziele in weit auseinanderliegenden Regionen, von Tatarstan im russischen Uralgebiet bis zur besetzten Schwarzmeer-Halbinsel Krim. Dort ereigneten sich auf der russischen Luftwaffenbasis bei Dschankoi mehrere heftige Explosionen. Das geht unter anderem aus Videos von Anwohnern hervor.
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski bestätigte den Angriff, während von russischer Seite keine offiziellen Informationen vorliegen. Aber mit der stundenlangen Sperrung einer Verbindungsstrasse bei dem Stützpunkt im Laufe des Mittwochs räumten die Lokalbehörden indirekt ein, dass dort etwas Aussergewöhnliches geschehen war.
Angeblich ein S-400-Flugabwehrsystem zerstört
Auch Daten von Erdbeobachtungssatelliten belegen mehrere Brandherde auf dem Militärareal von Dschankoi. Betroffen war jener Teil des Stützpunkts, wo Russland mehrere Kampfhelikopter stationiert hat, sowie eine Flugabwehrstellung.
Nach ukrainischen Militärangaben vom Donnerstag fielen dem Angriff Radarstationen und mehrere Abschussrampen eines S-400-Flugabwehrsystems zum Opfer. Im Internet kursiert ein Bild, das die zerstörten Geräte zeigen soll. Der Verlust eines S-400-Systems wäre für Russland ein empfindlicher Rückschlag, da die entsprechenden Bestände knapp sind und die Ukrainer schon bei früheren Gelegenheiten die russische Flugabwehr auf der Krim geschwächt haben. Das längerfristige Ziel dürfte darin bestehen, den russischen Abwehrschirm so weit auszuschalten, dass erfolgreiche Angriffe auf die Krim-Brücke bei Kertsch und weitere strategische Ziele möglich werden.
Ein ukrainischer Militärvertreter sprach am Donnerstag von einer guten «Ernte» der jüngsten Operation und deutete an, dass auch Flugzeuge getroffen worden seien. Genaueren Aufschluss über die Schäden werden erst hochauflösende Satellitenbilder in den kommenden Tagen geben. Die gut informierte, militärnahe russische Analysegruppe Rybar räumte jedoch unumwunden ein, dass es Schäden an Kriegsgerät und einem Stützpunkt-Gebäude gebe.
Laut Rybar steht auch fest, wie der Angriff erfolgte – mit einem Dutzend ballistischen Raketen aus amerikanischer Produktion, sogenannten Atacms-Raketen. Das lässt aufhorchen, denn nach bisherigem Kenntnisstand hatten die USA diesen Waffentyp den Ukrainern nur einmal geliefert, in sehr geringer Zahl. Nach einigen Einsätzen im Herbst waren die Vorräte bereits erschöpft. Allerdings gab es im März Gerüchte, dass Washington mithilfe von budgetären Tricks und trotz der Blockade der Militärhilfe im Kongress nochmals einige dieser Raketen an die Ukraine abgeben könnte.
Wegen ihrer hohen Reichweite von 165 Kilometern sind die Atacms-Raketen für Kiew sehr wertvoll. Die im Norden der Krim gelegene Garnisonsstadt Dschankoi lässt sich damit gerade noch erreichen. Die Raketen sind mit Streumunition ausgestattet – Hunderten von Kleinbomben, die sich im Zielbereich auf einer Fläche von mehreren Fussballfeldern verteilen. Das eignet sich besonders gegen leicht verletzliche Ziele wie Helikopter oder Radaranlagen. Eine neuere Version davon, mit einer Reichweite von 300 Kilometern und einem stärkeren, einzelnen Sprengkopf, haben die Ukrainer von den USA oft erbeten, aber nie erhalten. Das nun im Repräsentantenhaus zur Debatte stehende Gesetz über neue Militärhilfe weist die Regierung aber an, solche Raketen mit hoher Reichweite zu liefern.
Drohnen mit hoher Reichweite gegen Russlands Hinterland
Weitere ukrainische Angriffe richteten sich am Mittwoch gegen die Drohnenfabrik von Jelabuga und die Tupolew-Flugzeugfabrik von Kasan, beide gut 1000 Kilometer von der ukrainisch-russischen Front entfernt.
Zum Einsatz kamen Langstreckendrohnen, die nach russischen Angaben abgewehrt werden konnten. Laut Quellen im ukrainischen Militärgeheimdienst gelang es hingegen auf halbem Weg, in Kowylkino in der russischen Teilrepublik Mordwinien, eine strategisch wichtige Radaranlage zu treffen. Die Grossanlage des Typs Container ist erst wenige Jahre alt und gehört zu einem Frühwarnsystem, mit dem Russland feindliche Raketenangriffe auf bis zu 3000 Kilometern Distanz erkennen kann. Beweise für eine Beschädigung liegen nicht vor.
Ein weiterer Drohnenangriff richtete sich am Mittwochabend gegen die südrussische Stadt Woronesch, wo laut Berichten in sozialen Netzwerken ein Grossbrand ausbrach, möglicherweise in einem Treibstofflager. Auch Russland führte am Mittwoch schwere Luftangriffe aus, unter anderem auf die nordukrainische Grossstadt Tschernihiw. Dabei kamen nach ukrainischen Angaben 18 Menschen ums Leben, 77 weitere erlitten Verletzungen. Hauptsächlich betroffen war ein Hotel, das durch einen Einschlag schwer beschädigt wurde. Während die Ukraine von einem weiteren Kriegsverbrechen spricht, behauptet Russland, das Hotel sei militärisch genutzt worden.