Ein nächtlicher Drohnenangriff hat in Westrussland ein Inferno ausgelöst. Grosse Mengen Munition sollen detoniert sein. Die Katastrophe ist eine Blamage für das Putin-Regime, das behauptet hatte, die Anlage sei selbst bei einer Atomexplosion sicher.
Ukrainische Drohnenangriffe bis tief ins Innere Russlands sind längst keine Seltenheit mehr. Seit Anfang Jahr haben dabei mehrere Dutzend Erdölraffinerien, Treibstofflager und Munitionsdepots Schäden erlitten, oftmals mehr als 1000 Kilometer von der russisch-ukrainischen Front entfernt. Doch der spektakuläre Vorfall vom Mittwoch sticht heraus und übertrifft an Explosionskraft alle bisherigen Angriffe.
In der Nähe der Kleinstadt Toropez, 360 Kilometer westlich von Moskau, explodierte in der Nacht eines der grössten und modernsten Munitionslager Russlands. Videos von Anwohnern und Soldaten geben Einblick in das Ausmass der Katastrophe: Am Horizont loderten die Flammen an weit auseinanderliegenden Stellen hoch. Über Stunden, bis nach Tagesanbruch, folgte eine Detonation auf die andere. Die Explosionen waren so gewaltig, dass sie in ausländischen Messstationen als Beben der Stärke 2,8 auf der Richter-Skala registriert wurden. In sozialen Netzwerken glaubten verängstigte Russen angesichts einer riesigen, pilzförmigen Explosionswolke zunächst an einen Atombombenangriff.
Allegedly, the huge stockpile destroyed by a drone overnight in 🇷🇺 Toropets consisted partly of newly arrived North Korean missiles.#StandWithUkraine pic.twitter.com/6aYqmFpUbb
— olexander scherba🇺🇦 (@olex_scherba) September 18, 2024
Doch Fluggeräusche und Aussagen von Augenzeugen deuten darauf, dass es sich um einen verhältnismässig billigen Angriff mit Kamikaze-Drohnen handelte. Das Ziel erwies sich als gut ausgewählt: Das Lager Toropez umfasst auf einem ausgedehnten Areal von fünf Quadratkilometern Dutzende von einzelnen Munitionsdepots. Laut unbestätigten Berichten sollen 30 000 Tonnen Explosionskörper dort gelagert haben, darunter Raketen für Grad-Mehrfachraketenwerfer, Granaten und wahrscheinlich Flugabwehrraketen. Der ukrainische Geheimdienst behauptete zudem, es seien auch aus Nordkorea gelieferte Raketen betroffen.
Tausende von Einwohnern evakuiert, zum Teil per Boot
Das Arsenal liegt direkt an einer Bahnlinie, was aus logistischen Gründen verständlich ist. In unmittelbarer Nachbarschaft befinden sich aber auch die Stadt Toropez mit 11 000 Einwohnern und mehrere Dörfer. Über Opfer unter der Zivilbevölkerung liegen erst bruchstückartige Informationen vor. Im Rahmen einer Evakuation sollen 7500 Einwohner aus der Katastrophenregion gebracht worden sein. Im Fall des vom Strassenverkehr abgeschnittenen Dorfs Zikarjowo erfolgte die Flucht mit Booten über einen See. Bilder aus Toropez zeigen intakte Häuser, von denen aber viele zerborstene Fensterscheiben aufweisen.
Nasa-Beobachtungssatelliten registrierten eine ungewöhnliche Hitzeentwicklung auf der gesamten Militärbasis, also auch bei den zum Arsenal gehörenden militärischen Unterkünften. Diese waren laut offiziellen Angaben für eine 200-köpfige Mannschaft ausgelegt und dürften starke Zerstörungen erlitten haben. In einem sozialen Netzwerk schrieb ein Russe: «Schlechte Nachrichten. Viele 200er.» Diese Zahl verweist im Militärjargon auf tödlich Verletzte.
Wie immer in solchen Fällen gilt die erste Sorge der russischen Behörden dem Ziel, das Geschehen zu beschönigen und Verantwortung von sich zu weisen. Noch während im Hintergrund wie bei einem Feuerwerk ein Knall nach dem anderen zu hören war, stellte sich der Gouverneur der betroffenen Provinz Twer vor eine Kamera und erklärte, die Arbeiten der Einsatzkräfte verliefen «nach Plan». Das ist in Russland der sprichwörtliche Ausdruck dafür, dass die Herrschenden alles im Griff haben, auch wenn es für den gewöhnlichen Bürger nicht unbedingt danach aussehen mag.
Gouverneur Igor Rudenja wusste ferner zu berichten, dass alle feindlichen Drohnen abgeschossen worden seien; die Brände seien nur auf herunterfallende Trümmer zurückzuführen. Gutgläubige Zuschauer sollten zum Schluss kommen, dass ein ausserordentlicher Fall von Pech vorliegt.
Armeegeneral unter Korruptionsverdacht
In Wirklichkeit ist die Katastrophe für Russlands Regime blamabel. Das Lager Toropez hatte erst 2018 den Betrieb aufgenommen und wurde von der Staatspropaganda in den höchsten Tönen gelobt. Der damalige Vizeverteidigungsminister Dmitri Bulgakow, Chef der russischen Militärlogistik, reiste eigens an, um feierlich ein Band zu durchschneiden. In der damaligen Berichterstattung von Staatsmedien hiess es, das Arsenal sei nach den höchsten Weltstandards errichtet worden, um Raketen und Munition sicher zu lagern.
Dank seinen betonierten Anlagen – in Russland wird Munition oft auch in Holzhütten und unter offenem Himmel gelagert – sei der Schutz vor Luftangriffen gewährleistet, ja sogar vor einer Atomexplosion, behauptete Bulgakow damals.
Inzwischen ist der Armeegeneral längst zum Sinnbild von Korruption und Schlamperei in den russischen Streitkräften geworden. Nachdem die Logistik während der Ukraine-Invasion vom Februar 2022 jämmerlich versagt hatte, geriet Bulgakow in Ungnade. Zuerst verlor er seinen Posten im Ministerium, im Juli 2024 auch seine Freiheit: Er sitzt nun wegen Korruptionsvorwürfen im berüchtigten Moskauer Untersuchungsgefängnis Lefortowo.
Die militärischen Auswirkungen der Katastrophe von Toropez sind nicht einfach zu beurteilen. Falls tatsächlich 30 000 Tonnen Munition zerstört wurden, ist dies ausserordentlich viel, aber Russland hat nach Schätzungen in diesem Krieg bereits das 40-Fache an Artilleriemunition verschossen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass es nach offiziellen Angaben in Westrussland nur fünf solche Anlagen gab. Besonders die Streitkräftegruppe Nord, die an den Kämpfen in der teilweise ukrainisch besetzten Provinz Kursk sowie an der Charkiw-Front beteiligt ist, dürfte Nachschubprobleme zu spüren bekommen. Von Toropez verlaufen Eisenbahnlinien in die entsprechenden Frontgebiete.
Vor allem aber zeigt das Ereignis, wie schlagkräftig die ukrainischen Langstreckendrohnen geworden sind. Der Erfolg vom Mittwoch dürfte kein Einzelfall bleiben und zwingt die Russen, ihre Logistik zu überdenken. Kleinere Munitionsdepots in Frontnähe sind ohnehin bedroht; erst am Dienstag hatte die ukrainische Marine einen erfolgreichen Raketenangriff auf ein Arsenal bei Mariupol in der besetzten Südukraine gemeldet.